Die Ängstlichen - Roman
abgewetzten kakaobraunen Nike-Turnschuhen und einem limettengrünen T-Shirt, der Hartwig-Junge von schräg gegenüber. Diesmal ohne sein Comicheft.
»Meine Katze ist tot!«, sagte der Junge und deutete auf den vor ihm auf dem Boden liegenden Kadaver.
»Oh«, antwortete Helmut, versuchte aber trotzdem, über die Schulter des Jungen einen Blick auf den Körper zu erhaschen. »Das tut mir aber leid für dich. Wie ist das denn passiert?«, sagte er und musste überrascht feststellen, dass seine Wut verflogen war.
»Ein Auto!«, antwortete der Junge, ohne seinen Blick von dem toten Tier zu lösen. »Gleich da vorne!« Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die vorbeiführende Straße.
»Wirklich blöd«, antwortete Helmut, »aber nun nimm deine tote Katze und schaff sie bitte weg von hier! Ich will weiß Gott keine tote Katze vor meiner Tür haben!«
»Mika war doch erst drei Jahre alt!«
»Hallo, hörst du, was ich sage?«, wiederholte Helmut und vollführte dabei eine Handbewegung, ein hektisches Wedeln, als verscheuche er einen Schwarm Mücken.
»Sie sieht aus, als würde sie schlafen«, sagte der Junge und strich der äußerlich unverletzt wirkenden Katze liebevoll über das seidige Fell.
»Mach jetzt, dass du wegkommst, na los!«, sagte Helmut und stieß den Jungen nun mit der Fußspitze an.
»Hey, lassen Sie das, ja!«, rief der Junge. »Sie sehen doch, dass meine Katze tot ist. Das ist Ihnen wohl völlig egal, wie?«
»Du sollst damit verschwinden, hörst du nicht, was ich sage?« Helmut schubste den Jungen ungeniert mit dem Fuß von seiner Treppe.
»Aua!«, jaulte der und kollerte eine Stufe hinab, erhob sich aber sogleich wieder und baute sich demonstrativ vor ihm auf. »Wieso sind Sie denn so blöd? Ich hab Ihnen doch gar nichts getan!«
»Ach, zieh endlich ab«, erwiderte Helmut, der genug hatte vom Theater des Jungen.
»Mach ich aber nicht!«, blaffte der Kleine nun trotzig. »Und wieso leben Sie überhaupt alleine in dem Haus, hm? Haben Sie etwa keine Frau oder so was, die auf Sie aufpasst? Nein, bestimmt haben Sie keine! Denn welche Frau will schon mit einem da drin wohnen, der so blöd ist wie Sie?«
»Du frecher Kerl!«, rief Helmut nun wutentbrannt und ballte drohend die Faust.«Ich sag’s dir zum letzten Mal, mach, dass du wegkommst! Sonst rufe ich deinen Vater!«
»Sie haben mir überhaupt nichts zu sagen!«, entgegnete der Junge. »Sie haben ja nicht mal Kinder! Ha, ha, ha!« Und plötzlich begann er in die Hände zu klatschen und zu skandieren: »Armer Mann, der bloß schimpfen kann! Armer Mann, der bloß schimpfen kann! Armer, armer Mann!«
Da sprang Helmut mit einem Satz aus dem Türrahmen hervor, packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn ein paarmal. Sein Gesicht war rot und seine Züge angespannt. Helmutblickte in zwei schreckhaft aufgerissene Kinderaugen. Und das war es, was er darin sah: die schwachen Umrisse eines Menschen, der im Begriff war, den Verstand zu verlieren.
Erschrocken ließ er den Jungen wieder los, blickte sich kurz um, ob jemand Zeuge ihrer Auseinandersetzung geworden war, und lief, ohne sich noch einmal umzusehen, ins Haus.
In der Küche blieb er am Fenster stehen und spähte hinaus. Und auf einmal war ihm, während sein Blick sich langsam und wie in einer Überblendung von dem davontrottenden Jungen löste, als ob er der kleinen Stichstraße nach links bis in die damalige Abenddämmerung folgen könne, in welcher er als Achtjähriger mit vor Heimweh zugeschnürter Kehle auf dem Balkon der engen Straßburger Wohnung gestanden und die blauschwarzen Berge gesehen hatte, wie sie sich vor dem gelbgrauen Himmel abhoben, damals, 1950, als sein Blick sich immerzu in Richtung Deutschland wandte, in Richtung Heimat. Johanna hatte ihn, von einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung wochenlang ans Bett gefesselt, in ihrer Not in einen Zug gesetzt und zu ihrer Cousine Mimmi nach Straßburg verschickt, wo er am Ende etwas mehr als acht Monate blieb und zum Bettnässer wurde vor lauter Angst und Heimweh nach den sachten Anhöhen seines Zuhauses. Ulrike und Konrad, das hatte er nie vergessen (weil es ihn vollkommen überrascht hatte), weinten, als er in den Zug gestiegen war. Die beiden waren anschließend nach Heeborn zu Johannas Tante gebracht worden, wo sie einander nicht von der Seite wichen und nachts wechselweise ins Bett des anderen krochen.
Immer wieder hatte er sich, wenn er gegen halb vier morgens geweckt wurde, um mit Mimmis wortkargem Mann Louis in der
Weitere Kostenlose Bücher