Die Ängstlichen - Roman
aufmache! Haut ab! Verschwindet.«
»Oh, Rainer«, entfuhr es ihr, »wie konnte es bloß so weit kommen mit uns? Was haben wir nur falsch gemacht?«
Ulrike wusste natürlich ganz genau, was all die Jahre zwischen ihnen falsch gelaufen war (und dass Rainer die Hauptschuld an ihrer Misere trug). Doch das alles verschwand jetzt hinter der verschlossenen Kellertür, löste sich auf wie Schneeflocken in der Sonne. Sie war bereit, alle Schuld auf sich zu nehmen, wenn er nur endlich die Türe aufschloss. Da erklang erneut Rainers gebrochene Stimme: »Lasst mich in Ruhe! Haut ab!«
»Aber wieso denn?«, antwortete Ulrike, die nicht verstand, weshalb er im Plural mit ihr sprach. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, erhob sie sich und pochte mit der Faust gegen die Tür. »Alles wird gut! Rainer«, rief sie. »Ich weiß es! Nur mach bitte die Tür auf! Bitte!« Doch wie ein gespenstisches Echo seiner Worte erklang bloß wieder sein einsilbiges »Ihrsollt verschwinden! Haut ab!«. Eine aus dem Jenseits zu ihr herüberdringende Stimme. Dann wurde ein kurzes Rumoren laut und verstummte.
I ris Münch beobachtete, wie die Sonne über ihrer Straße aufstieg, sich zwischen den Ästen der Platanen hindurchzwängte und zum Fenster zu ihr hereintastete. Sie blinzelte, wandte den Kopf leicht zur Seite und starrte auf den strahlend hellen Fleck auf dem Kissen. Dann schob sie den Kopf zurück in den Sonnenfleck, schloss die Augen und badete im Licht.
An den Rändern der geschlossenen Lider nahm sie ein rotes, sich intensivierendes Pulsieren wahr, so als presse sich das Blut hinter einer Membran gegen ihre Netzhaut. Und im selben Moment formte sich in ihrem Kopf der Satz: Niemand kann mich dazu zwingen, aufzustehen und da hinzugehen! Außerdem spürte sie mit zunehmender Klarheit, dass sie herauszudriften begann aus Bens Welt. Sie liebte ihn noch immer und würde ihn wohl immer mögen. Sie hatte ihre Zukunft für ihn riskiert und damit versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen, auf der weniger Unordnung herrschte. Doch nun musste sie schmerzlich erkennen, dass ihr Bestreben, sie einander dadurch noch näherzubringen, das Gegenteil bewirkt hatte: Es hatte sie entzweit! Sie hatte für ihn gestohlen und ihn dadurch verloren. Denn diese Sache, das spürte sie, würde fortan zwischen ihnen stehen. Ben würde seinen Weg künftig allein weitergehen müssen. Ohne sie.
Und so verbrachte sie im verwirrten Gefühl einer Schulschwänzerin, die sich zwar einerseits an ihrer kleinen Flucht erfreut, andererseits aber bedauert, nicht bei den anderen zu sein, den Rest des Tages mehr oder weniger ungestört mit Lesen und Fernsehen im Bett. Denn auch auf Bens wiederholteVersuche, sie telefonisch zu erreichen, ging sie nicht ein, indem sie das Klingeln jedes Mal stoisch ignorierte.
Eine Tatsache, auf die Johanna zu Bens Erstaunen mit eisigem Schweigen reagierte.
Als wirklicher Tiefschlag aber erwies sich für sie die nur wenig später erfolgte Absage ihrer Schwester Erika, die sie noch dazu in einer zwar kurzen, aber heftigen Abwärtsbewegung ihrer Kräfte erreichte, einem jähen Schwinden der Sinne.
Sie kam sich vor wie ein Marathonläufer, der kurz vor dem Ziel schlappmachte. Sie hatte geputzt und Staub gesaugt, hatte den Boden geschrubbt, das Klo gesäubert, mühsam (und in dichte Staubwolken gehüllt) die Teppiche draußen im Hof auf die Stange gewuchtet, geklopft und wieder ins Haus geschleppt und so gut wie möglich für Ordnung gesorgt, wie sie das jedes Mal tat, wenn sie Besuch erwartete. Und nun das: Schon vor dem Mittagessen die zweite Absage!
Sie verspürte eine leichte Atemnot, lief keuchend hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich in Janeks Ohrensessel fallen.
Sie war müde und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Doch auch nach längerer Überlegung fiel ihr nichts wirklich Schönes ein, zu mächtig war der Druck, der auf ihr lastete.
B ei der Vorstellung, dass sie in Montreux in »Ceasars Brasserie« gesessen und erfolglos darauf gewartet hatten, dass er mit ihrem Geld ankam, musste Janek auch jetzt noch, Tage später, schmunzeln.
Er verachtete diese uniformierten Typen: ihre schlecht, weil in der Regel zu eng geschnittenen dunklen Nadelstreifenanzüge, ihre gewienerten handvernähten Schuhe; dazu die Goldkettchen und die falschen Siegelringe; aber vor allem dieArt, wie sie an ihren billigen Rillos kauten oder lutschten und in einer Mischung aus Stumpfsinn und Langeweile graue Rauchkringel in die Luft bliesen.
Schon beim
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