Die Ängstlichen - Roman
diesem Samstag war alles anders: Der Tisch im Wohnzimmer musste ausgezogen und eingedeckt werden, das Dresdner Hutschenreuter-Service gespült und poliert, das Tischtuch gebügelt und die Stühle aus dem Keller heraufgeholt, abgestaubt und aufgestellt werden. (Natürlich konnte sie Frau Casper um Hilfe bitten. Doch die Vorstellung, sie anschließend, nach empfangener Hilfeleistung, mit der Begründung, bei dem Ganzen handele es sich um eine Art »geschlossene Gesellschaft«, wieder wegschicken zu müssen, war ihr äußerst unangenehm.) Wie sie es auch drehte und wendete: Die ihr verbleibende Zeit bis zum Eintreffen ihrer Gäste war, so sah es nun mal aus, verplant mit zahlreichen Aufgaben. Allein die Tischordnung, also wer neben wem sitzen sollte, bereitete ihr Kopfzerbrechen. Denn zum Beispiel Bens neue Freundin Iris schutzlos neben dem gern selbstherrlich dozierenden Helmut zu platzieren erschien ihr, genau betrachtet, ebenso unpassend, wie Ben neben Rainer zu setzen, der, das wussten alle in der Familie, nicht eben sonderlich viel von seinem Neffen hielt. Und was war überhaupt mit ihren Enkelkindern? Von Ulrike hatte sie, was deren Kommen anging, nicht das Geringste gehört. Weshalb eigentlich nicht? Wo Ulrike doch ganz genau wusste, wie sehr sie Ungewissheit hasste.
Fragen über Fragen schwirrten Johanna in diesen Minuten durch den Kopf. Und während sie sich in den neuen Tag hinein bewegte wie in ein Schwimmbecken, dessen Stufen unter ihren unscharfen Blicken gefahrvoll verschwammen, erwachte Helmut von dem kurzen wiederkehrenden Klappern des Briefkastendeckels in der Diele. (Dummerweise hatte er in der Nacht vergessen, die Schlafzimmertür zu schließen.) Auf seinem Gesicht spürte er einen kühlen, unangenehmen Hauch, der vom Flur herüberwirbelte.
Wahrscheinlich steht irgendwo ein Fenster offen, dachte erärgerlich und drehte sich von der rechten auf die linke Seite. (Seine rechte Gesichtshälfte war bereits ganz taub.) Gleichzeitig schob er die leicht geschwollene Hand unter das gestaute, zu einem amorphen Etwas zerdrückte Kopfkissen und machte Anstalten, wieder einzuschlafen. Doch kaum hatten auch seine von einem plötzlichen Bewegungsdrang befallenen Beine unter der Decke wieder zur Ruhe gefunden, da erklang das Klappgeräusch von neuem.
»Verdammt!«, rief Helmut und warf sich auf die andere Seite. Nach nicht einmal einer Minute jedoch gab er auch diesen inzwischen eher lustlosen Versuch, den Zudringlichkeiten der Außenwelt zu entfliehen, auf und starrte stattdessen an die Decke, so als lasse sich dort eine Lösung für sein plötzlich entstandenes Entspannungsproblem finden. Er gab sich kleinen, an sich drehende Zierfische in einem neonlichtbeleuchteten Warmwasseraquarium erinnernden Phantasien hin, an denen er sich erfreuen konnte und in denen es darum ging, was ihm mit seiner unerwartet schnellen Entlassung aus dem Krankenhaus alles erspart geblieben war: angefangen bei winzigen radioaktiven Schrotkugeln, mit denen man seine Harnblase womöglich beschossen hätte, um dem darin hausenden Krebs den Garaus zu machen, bis hin zu der quälend langen Operation, die ihm womöglich gedroht hätte, und all den anderen furchterregenden Chemotherapieformen, von denen er gehört hatte. (Im Geiste hatte er sich bereits bis auf die Knochen abgemagert, ohne Haare und mit wässrigen, blutunterlaufenen Augen gesehen.) Doch weil die Wut über das enervierende Geklapper nicht nachließ, warf er die Bettdecke ab und wuchtete sich aus dem Bett, tappte schnaubend ins Badezimmer und riss seinen Bademantel vom Haken an der Tür. Er wollte sehen, wer es wagte, ihn in aller Herrgottsfrühe zu belästigen. Das giftgrüne LCD-Display seines Technics-Radioweckers zeigte 8.24 Uhr. (Vor nicht allzulanger Zeit hatte er noch um diese Zeit, selbst samstags, auf dem Tennisplatz gestanden und seinem Gegenüber Kommandos zugerufen, während er ihm die zitronengelben Filzbälle punktgenau zuspielte. Doch seit Helmut den Tennislehrerjob an den Nagel gehängt hatte und seine Sportart zu etwas geworden war, wovon er bloß noch in der Vergangenheitsform sprach, lag er um diese Zeit für gewöhnlich schnarchend im Bett.)
Er knotete den Gürtel des Mantels vor dem Bauch zusammen, lief in den Flur, drehte den im Schloss steckenden Schlüssel einmal herum und zog erwartungsvoll die Tür auf.
Vor ihm auf dem Fußabtreter saß, bekleidet mit einer knapp über den spitzen Knien abgeschnittenen ausgebleichten Jeans, leuchtend weißen Socken,
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