Die Ängstlichen - Roman
Kühlschrank stellen können. Doch stattdessen war sie, nachdem auch Ben sie nach einer langen, innigen und wortlosen Umarmung irgendwann verlassen hatte, einfach sitzen geblieben und hatte zugesehen, wie die Dämmerung einsetzte und es langsam dunkel wurde.
Draußen hatte es unterdessen sachte angefangen zu regnen, ein leichter und nicht sehr kühler Regen in Form großer und wie in Zeitlupe herabfallender Tropfen, die in unregelmäßigen Abständen gegen die Fensterscheiben fielen und ein einschläferndes Trommeln erzeugten – die Vorboten heftigerer Schauer.
Sie hatte es allen recht machen wollen und war damit gründlich auf die Nase gefallen. Dabei hätte sie wissen müssen, dass am Ende der auf der Strecke bleibt, der die Temperamente und die geheimen, unkontrollierbaren Kräfte und Antriebe der anderen fahrlässig unterschätzt. Und so hatte sich der Weg, den sie eingeschlagen hatte, auf einmal als holprig und voller Hindernisse erwiesen.
Unterdessen trieb ein kräftiger Südostwind auf das nächtliche Hanau zu. Auf der Höhe von Bad Homburg wehte er bereits stark, ehe er sich vor den Toren Frankfurts teilte und sowohl in Richtung Offenbach als auch nach Hanau abdrehte und Kurs Richtung Kesselstadt nahm.
Erste schwache Böen waren inzwischen auch in der Ankergasse zu spüren, Blätter standen, wie an unsichtbaren Fäden gezogen, vom Pflaster auf und wirbelten spiralförmig durch die Luft, Fensterläden klapperten in ihren Scharnieren, und die Dachkandeln übernahmen in dieser kleinen meteorologischen Symphonie den Part der rüffelnden Trompeten.
Und während die kühlen Luftmassen ungehindert nach Hanau einströmten und größere Mengen Regen mit sich führten, saß Ben am Wilhelmsbader Bahnhof an der signalrot in der zugigen Nacht leuchtenden Imbissbude »Weltmeister«, trank in kleinen Schlucken ein Beck’s und blickte manchmal gelangweilt auf den 17-Zoll-Farbscreen, auf dem gerade die Neun-Uhr-NTV-Nachrichten liefen.
Das Jahr der großen Veränderungen hatte bereits eine Reihe folgenschwerer Krisen erlebt und war, von kurzen Phasen derRevision abgesehen, im Begriff, als ein weiteres der Angst und des globalen Schreckens in die Geschichtsbücher einzugehen. Bin Laden, im Sternzeichen der Fische geboren, rüstete, mit dem Mars und entschlossenen Mitstreitern an seiner Seite, zu neuen schrecklichen Schlägen gegen die westliche Welt. In Tiflis hatte Georgiens Staatspräsident Eduard Schewardnadse den Notstand ausgerufen. Das US-Verteidigungsmi nisterium verkaufte im Internet Gerätschaften, die sich zur Herstellung von Bio-Waffen eignen, und ein verspäteter ICE kostete in Nordrhein-Westfalen dreißig Schafe das Leben (der Schäfer hatte sich vor der Gleisüberquerung nach den Fahrzeiten erkundigt). In einer fünfzig Stunden dauernden Operation waren in Singapur die neunundzwanzigjährigen siamesischen Zwillinge Ladan und Laleh Bijani getrennt worden – und wenig später gestorben.
Ben wollte das alles nicht mehr sehen. Er löste seinen Blick von dem Bildschirm, denn er konnte sowieso an nichts anderes als an Iris denken.
Hier hatten sie ein paarmal spätabends zusammen gesessen, Bier getrunken, den rot leuchtenden Schlusslichtern der in Richtung Frankfurt vorbeirauschenden Züge nachgestarrt und sich die meiste Zeit verliebt angesehen.
Der aufkommende Sturm ließ die Wände des Imbisswagens bedrohlich knarren und erzittern, und über die nahen Gleise wirbelten im hohen Bogen weiß leuchtende Fetzen einer Zeitung, die spukhaft in der Nacht verschwanden.
In mächtigen Schüben griff der Wind nach den nahen Wäldern, überfiel Wilhelmsbad und die Hohe Tanne, bis er sich spürbar in Richtung Weststadt verschob und sich nach der Ankergasse auszustrecken begann.
Auf dem großen Bildschirm war jetzt bloß noch Schneegestöber zu sehen, keine Bilder, kein Ton mehr (offenbar hatteder Wind die auf dem Dach angebrachte Antenne abgerissen oder aus ihrer Verankerung gelöst), die weißen Plastikstühle und Tische wirbelten durch die Luft und kollerten über den Asphalt. Der Wagen begann nun bedenklich zu schaukeln, und im Gesicht der Bedienung, einer etwas in die Jahre gekommenen, leicht verblichenen Schönheit, begann sich Furcht breitzumachen. Mit hektischen Bewegungen fing sie an, die Seitenwände herunterzuklappen und zu sichern.
»Keine Panik!«, rief Ben, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Und nachdem sie gemeinsam in aller Eile alles festgezurrt hatten, der Wagen rundum verschlossen war und sie
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