Die Ängstlichen - Roman
die Stühle wieder eingesammelt und verstaut hatten, lauschten sie im Innern des halbdunklen Wagens, auf dem Boden sitzend, dem Prasseln des Regens. Auf dem ausgeschalteten Grill lagen Würste und ein Kotelett, es roch nach Gas.
»Danke!«, sagte die Bedienung erleichtert.
»Kein Problem«, sagte Ben, als sein Handy sich in seiner Jackentasche zu regen und zu klingeln begann.
»Ja?«, sagte er und presste das Gerät erwartungsvoll gegen das rechte Ohr.
»Ich bin’s«, hörte er Iris sagen. Ihre Stimme klang dünn, als sei sie sehr weit weg. »Wo bist du?«
»Ich, also, ich bin in Sicherheit, wenn du das meinst! Geht ja grad mächtig was los da draußen.« Die Bedienung lachte ihn an und nickte. »Und du?«
»Zu Hause!«
Endlos lange Sekunden verstrichen, ohne dass einer von ihnen sprach. Bis er schließlich das Schweigen brach und sagte: »Ich bin so froh, dich zu hören!«
»Ja, ich auch«, erwiderte sie, und er hörte an der Art, wie sie dabei ausatmete, welche Überwindung sie dieser Satz gekostet hatte. Und dann sagte sie: »Wie war euer Treffen?«
»Ach, vergiss es!«, antwortete Ben und sah die Bedienung an, die sich inzwischen einen Pullover umgehängt hatte.
»Gib uns Zeit, ja, Ben?«, sagte Iris unvermittelt.
Nun atmete er kräftig aus und stellte sich vor, wie sie in ihrem erleuchteten Wohnzimmer am Fenster stand, in die pechschwarze stürmische Nacht blickte und ihre Umrisse sich in der Scheibe spiegelten.
»Das heißt, du hast uns noch nicht aufgegeben?« Er wartete gespannt auf ihre Reaktion.
»Nein, Ben! Aber ich brauche Zeit, um das alles besser zu verstehen. Und du solltest dir ebenfalls Zeit nehmen, um …«
»O ja, das tue ich, Iris!«, fiel er ihr ins Wort und registrierte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Melde dich bitte, Ben!«, sagte sie.
»Das mach ich«, sagte er.
»Bis dann!«, sagte sie und legte auf.
Er hielt sein Handy noch eine Weile in der Hand und starrte ungläubig auf das leuchtende Display, von dem soeben ihre Nummer verschwunden war.
»Wie wär’s jetzt mit einem Bier?«, sagte die Bedienung und streckte ihm eine geöffnete Flasche hin. Das Tosen des Sturms drang jetzt als an- und abschwellendes Fauchen zu ihnen herein.
»Sehr gerne!«, sagte er, griff beherzt nach der Flasche, und sie stießen lachend miteinander an.
E psilon/Aurigae, dieser junge Vorhauptreihenstern, der sich alle siebenundzwanzig Jahre für die Dauer von vierundzwanzig Monaten verfinstert, gehorchte in diesen Minuten seiner kosmischen Bestimmung und schaltete die Hälfte seiner Leuchtkraft ab. Und während der regenbringende Südostwindinzwischen die Weststadt erreichte, stand Helmut im Keller seines Hauses und hielt im diffusen Schein der nackten 30-Watt-Deckenbirne eine von einer dicken Staubschicht überzogene Flasche Weißwein, 96er Erbacher Siegelsberg, in der Hand.
Er hatte sich unwohl gefühlt, als er nach Hause kam, und in der Leere seiner vier Wände flirrten ihm noch einmal all die Worte durch den Kopf, die am Nachmittag gewechselt worden waren. Doch weil er sich nicht dazu durchringen konnte, seine Schwester in Fulda anzurufen, hatte er sich vor den Fernseher gesetzt und angefangen zu trinken. Erst Bier, dann Weißwein. Besser aber fühlte er sich auch dadurch nicht. Eher noch einsamer.
Ein Gefühl, das Ulrike, die kurz vor Fulda vom einsetzenden Regen überrascht wurde, mit ihm hätte geschwisterlich teilen können. Denn die Aussicht, Rainer hinter der verschlossenen Kellertür anzutreffen, raubte ihr, je näher sie dem Stadtteil Petersberg kam, alle Hoffnung. Und so steuerte sie ihren Wagen durch die da und dort von Blitzen zerrissene Nacht, ohne Halt und ohne Zukunft.
Nur Konrad, der inzwischen Gefallen daran fand, die wechselnden Stationsschwestern des St.-Vinzenz-Krankenhauses mit immer neuen Phantasiegeschichten an der Nase herumzuführen, blickte ohne Angst oder Sorge nach vorn, ganz im Gegenteil: Denn er wusste, er würde (spätestens wenn alles verheilt war) das wieder in Angriff nehmen, was ihm diesmal misslungen war.
D er riesige, in Papier eingeschlagene Strauß lag wie ein schlafendes Baby in seinem Arm. Und mit jedem Schritt, den er sich weiter gegen den peitschenden Regen stemmte undRichtung Ankergasse lief, wuchs das beglückende Gefühl in ihm, am Ende einer sonderbaren Reise angekommen zu sein.
Von der Krempe seines tief in die Stirn gezogenen Huts troff das Wasser, und an den Schultern seines Mantels und an den Beinen
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