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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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den langen Rückweg neben mir, wortlos nimmt er im Haus meiner Pflegeeltern seinen Rucksack, grußlos verschwindet er. Meine Pflegemutter ist erschrocken. Wenigstens ihr hätte er doch ordentlich auf Wiedersehen sagen können. Das gehört sich so.
    Ich fühle mich unbeschwert und heiter wie seit langem nicht mehr.

Haftbuch, 20. Februar
    Andrea nennt sich selbst eine Politische. Mir ist neu, dass es das bei uns noch gibt. Sie ist bei einer Demo der Occupy-Bewegung in Stuttgart festgenommen, dann inhaftiert worden. Sie soll einen Polizisten krankenhausreif geschlagen haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr einen Mordversuch vor. Mit großen braunen Augen guckt Andrea mich an. Sie haben die Farbe von Bitterschokolade. Die Polizisten sind gepanzert, sagt sie, tragen Helme, Knieschutz, Brust- und Rückenpanzer. Und ich soll da einen verletzt haben?
    Andrea trägt Baumwolle von einem Ökoversand und keine Lederschuhe. Die Anstaltsdecken hat sie zurückgegeben, weil sie aus Wolle sind. Sie lebt vegan. Das meiste, was aus der Küche kommt, kann sie nicht essen. Nicht einmal das Graubrot, weil ihr niemand zu sagen bereit ist, ob das in Industriebrot enthaltene Trennmittel Lecithin nur aus Soja oder auch aus Eigelb gewonnen wurde.
    Der Anstaltsarzt, erzählt sie mir beim Hofgang, hat ihr erklärt, es gebe keine medizinischen Gründe für sie, auf tierische Produkte zu verzichten. Es sei ihre Entscheidung, ob sie das Fleisch weglässt. Aber das heißt: Kartoffeln, Äpfel, Reis und das war’s. Andrea lacht bitter. Das ist keine Ernährung. Sie braucht Nüsse, Erbsen, Tofu, Hefeextrakte, Hanfprotein. Wenn der Staat ihr die Freiheit entzieht, ist er auch für ihre vegane Ernährung zuständig, findet sie. Es geht nicht an, dass sie sich auf eigene Kosten versorgen muss. Aber der Arzt hat ja nicht einmal den Unterschied zwischen vegan und vegetarisch kapiert.
    Mir muss sie ihn nicht erklären. Ob ich auch vegan gelebt habe, fragt sie. Nein, aber ich habe mal mit einem Veganer zusammengelebt. In Tübingen.
    Ah, Tübingen. Ihr Gesicht hellt sich auf. Sie will wissen, wer das war.
    Ich sage: Er hieß Till.
    Den kennt sie. Sie haben einige gemeinsame Aktionen gemacht. Aber in den letzten Jahren hat sie ihn aus den Augen verloren. Wie geht es ihm denn?
    Ich behaupte, ich wüsste es nicht. Ich sage ihr nicht, dass er tot ist und man mir vorwirft, ihn umgebracht zu haben. Aber ich frage sie: Warst du eigentlich damals dabei, bei der Aktion in der Wilhelma? Tiere freilassen.
    Nein, sagt sie und macht dicht. Vielleicht hält sie mich für einen Spitzel, der sie ausfragen soll.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
    Nach Dreikönig lese ich im Stuttgarter Anzeiger, dass es sich bei der an der Stauanlage Stuttgart-Hofen im Neckar gefundenen Leiche um die sterblichen Überreste des Tübinger Soziologieprofessors Norbert Schmaleisen handelt. Das hat die Analyse des Gebisses ergeben. Schmaleisen galt seit dem 23. Dezember als vermisst. An dem Tag ist er am Vormittag mit dem Zug nach Stuttgart aufgebrochen, aber nie mehr zurückgekehrt.
    Der Schreck fährt mir tief in den Bauch. Dann habe ich ihn womöglich zuletzt lebend gesehen.
Zettel, 21. Februar
    Mein Laptop ist weg. Er steht nicht mehr auf meinem Tisch. Wo ist er? Beschlagnahmt, antwortet die Schluse. Das überlebe ich nicht. Die wissen doch, dass ich nicht richtig mit der Hand schreiben kann. Die wissen das doch!
Haftbuch, Montag, 11. März
    Die Abteilungsbeamtin hat mich in ihr Büro geholt. Und da steht mein Laptop. Aber wenn Sie noch einmal über Sicherungsmaßnahmen schreiben, sagt sie streng, dann war es das. Haben wir uns verstanden? Ich nicke. Ich tue alles, was ihr wollt. Ich bin korrumpierbar. In den zurückliegenden drei Wochen habe ich kapiert, wo ich bin. Im Knast. In U-Haft, unter Beobachtung, der Anstaltsordnung unterworfen. Sie können dich hier ganz leicht verletzen, ganz tief.
    Bis zu diesem Tag saß ich den ganzen Tag am Computer, konnte mich abschotten, fühlte mich sicher, dachte, ich könnte das Gefängnis ignorieren, solange ich schreiben kann. Die Gedanken sind frei.
    Das hat sich geändert, als ich am 21. Februar vom Hofgang in meine Zelle zurückkomme und mein Laptop verschwunden ist. Panik. Das geht doch nicht, das können die nicht machen. Gleich schreie ich. Zerschlage das Inventar, tobe, bis sie mich erschießen wie einen tollwütigen Hund. Aber das tun sie nicht. Sie schauen zu, wie wir allmählich wahnsinnig werden. In meiner Phantasie gehe ich der

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