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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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anders verhalten.
    Das Gebäude des alten Robert-Bosch-Krankenhauses, in dem das Polizeipräsidium untergebracht ist, liegt in tief verschneiten Weinbergen am Hang über dem Pragsattel. Auf der riesigen Kreuzung herrscht Berufsverkehrsstau. Wir biegen in die Hahnemannstraße ein. In einem Fahrstuhl, der wie ein verschrammter Lastenaufzug aussieht, fahren wir Stockwerke hoch. Die Polizisten liefern mich ab, drehen sich um und gehen, ohne sich von mir zu verabschieden.
    Die Beamten, die mit mir zu tun haben, sind nicht zum Reden aufgelegt. Sie geben Anordnungen in einem Ton, als seien ihnen die Indiskretionen, zu denen ich sie zwinge, unangenehm. Sie müssen mich anfassen, meine Hand auf die Glasplatte drücken, die meine Fingerabdrücke aufnimmt und digitalisiert. Dann muss ich den Mund aufmachen für den Abstrich. Ich sehe die Nase der Beamtin ganz nah, während sie mit dem Wattestab in meinem Mund herumfährt, und halte den Atem an, denn ich habe mir die Zähne nicht geputzt.
    An den Geruch nach Fäkalien im Polizeigewahrsam erinnere ich mich. Ich bin in einem Vorraum allein mit einer Beamtin. Sie mustert mich. Auch sie wird die Distanz zu mir nicht halten dürfen und lässt mich die Zumutung spüren, die ich bin. Sie ist dicklich. Polizeiuniformen betonen vor allem die Schwächen einer weiblichen Figur, der Gürtel schneidet ein, die Hose spannt an den falschen Stellen, die Hemdbluse sitzt nicht.
    Ich soll meinen Schmuck herausgeben, auch die Ohrringe. Ich will mich sträuben, vermute aber, dass sie für diesen Fall juristische Drohungen parat hat. Sie verstaut alles in einem Umschlag. Und deutet auf meine Füße: Die Schnürsenkel.
    Ich frage, was mit denen ist.
    Ich soll sie herausziehen und ihr übergeben.
    Aber wie soll ich ohne laufen?, frage ich entsetzt. Ausgerechnet Sneakers, wo die Ösen bis zu den Zehen gehen, hat die andere Beamtin vorhin für mich ausgesucht. Warum nicht auch eine Hose, die mir zu weit ist? Denn den Gürtel hätte man mir jetzt auch weggenommen.
    Ich will meinen Anwalt anrufen, sage ich, Gerald Feh.
    Wir rufen ihn an, antwortet sie.
    Sie schließt die Tür zu einem Gang mit Eisentüren auf. Ich schlurfe in meinen Sneakers, kann beim Gehen die Füße nicht vom Boden nehmen. Dann sitze ich mit saurem Geschmack im Mund, ungeduscht und meiner sozialen Identität beraubt in einer Zelle des Polizeigewahrsams auf einer Liege aus Beton. Das Kopfkissen ist aus Plastik, am Fußende liegt zusammengefaltet eine Decke, in den Boden eingelassen ist das Loch eines Stehklos, der Abzug ist nahtlos in die Wand eingefügt. Anstelle des Fensters gibt es Glasbausteine.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Meine Gedanken kreiseln. Wann kommt Onkel Gerald? Was wird werden? Ich fange an zu zweifeln, ob sich der Irrtum wirklich zügig aufklären wird. Wie werden es meine Pflegeeltern aufnehmen? Endet an diesem Punkt ihre Großmut mir gegenüber? Werden sie sich sagen, dass man der Tochter einer Kindsmörderin letztlich doch nicht trauen kann oder eben alles zutrauen muss? Womöglich gibt es doch ein Asozial-Gen, ein Außenseiter- und Verbrecher-Gen, gegen das auch eine gute Erziehung nicht ankommt. Die Kollegen werden sich das Maul zerfetzen, klar. Einige werden immer schon gewusst haben, dass mit mir was nicht stimmt. Andere werden auf die Unschuldsvermutung pochen, um zu verbergen, wie interessant sie es finden, mit einer Mörderin zusammengearbeitet zu haben. Und in ein paar Wochen wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Ich bin raus und weg.
    Irgendwann bekomme ich einen Pappbecher mit heißem Pfefferminztee, eklig süß, und ein Essen in einer Plastikschale, Nudeln mit einer rötlichen Soße aus Fleischknötchen und Möhren. Ich frage die Beamtin nach der Uhrzeit und erfahre, dass es halb zwölf ist. Erst. Ich gehe auf Socken hin und her. Ich kann keinen der Gedanken festhalten, die auf dem Karussell an der Stelle vorbeisausen, die im Kopf das Denken kontrolliert. Irgendwann tun mir Hüften und Füße weh und ich lege mich hin. Wo steckt Onkel Gerald nur?
    Vielleicht habe ich geschlafen. Plötzlich höre ich den Schlüssel. Zwei uniformierte Polizisten bitten mich, aus der Zelle zu treten. Ich schlurfe. Es ist beschämend. Es geht in den Fahrstuhl und runter vor die Tür, wo ein Sprinter mit verklebten Fenstern steht. Ich soll einsteigen. Dabei verliere ich einen Schuh und lande mit dem Fuß im Schnee. Die Socke ist sofort nass.
    Innen sieht der Wagen aus, als hätte man lauter Toilettenkabinen

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