Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
Feh
    Auf meine Beschreibung der Szene mit Mara und Mokili am Wasserbecken reagiert Professor Schmaleisen sehr skeptisch, ja verärgert. Das würde doch in letzter Konsequenz bedeuten, dass die Äffin in Tötungsabsicht gehandelt habe.
    »Ganz recht«, antworte ich ihm. »Der Infantizid kommt in der Wildnis bei allen wehrhaften Arten vor. Ein Löwe beißt die Jungen seines Vorgängers tot, wenn er eine Löwinnengruppe übernimmt. Von den Schimpansen in Gombe berichtet Jane Goodall schon 1976, dass die Schimpansin Passion gemeinsam mit ihrer Tochter Pom junge Schimpansen getötet und teilweise gefressen hat. Und im New Scientist ist kürzlich ein Artikel erschienen, dem zufolge im Budongo-Wald die Kinder von Weibchen getötet wurden, die kurz vorher in die Gruppe eingewandert waren. Man deutet es als angemessenes Verhalten angesichts von Nahrungsknappheit. Die Überlebenschancen des eigenen Nachwuchses sollen damit erhöht werden.«
    Das kann Schmaleisen nicht in Abrede stellen. Ich kenne mich besser aus als er. Aber bei Bonobos sei dergleichen bislang doch nicht beobachtet worden. Und Nahrungsknappheit herrsche in der Wilhelma nun weiß Gott auch nicht. »Das Verhalten, das Sie beobachtet zu haben meinen«, sagt er, »wäre auch kein vom Instinkt geleitetes Verhalten zur Rettung der eigenen Gene, sondern vielmehr ein mit Heimtücke geplanter Akt, für den die Äffin nicht ihre natürlichen Waffen, das Gebiss, benutzt hat, sondern ein Werkzeug, nämlich das Wasser.«
    Was hat meine Mutter eigentlich benutzt, frage ich mich erschrocken, um meine Geschwister zu töten? Ihre Hände? Ein Kissen? Ein Messer? Hat sie getötet wie ein Tier oder wie ein Mensch? Wieso weiß ich das nicht? Der Aktenordner mit den Zeitungsartikeln und Ermittlungsergebnissen steht noch immer bei meinen Pflegeeltern. Ich muss ihn mir endlich geben lassen. Ich bin erst erwachsen, wenn er bei mir liegt.
    Immer wieder höre ich in den Medien Berichte über solche Fälle. Man kann sich dem nicht entziehen. Sie knallen einem aus dem Radiogerät oder Fernseher entgegen mit immer dem gleichen Tremolo von durch Entsetzen maskierter Faszination. Je öfter ich die Worte »unbegreifliche Tat« höre, desto mehr habe ich das Gefühl, dass diese Moderatorinnen eigentlich genau wissen, warum Menschen andere Menschen töten, vor allem dann, wenn sie wehrlos sind. Nur ich weiß es nicht. Und sie sagen es mir nicht.
    Schmaleisen höre und sehe ich nur noch wie durch Watte, denn in meinem Kopf tobt die Frage, was die Handlung meiner Mutter eigentlich für eine Handlung war. In welchem Moment ist ihr Plan entstanden, die Ausgeburt zu töten? Schon im Moment, wo ihr zu Bewusstsein kommt, dass sie nicht Durchfall hat, sondern ein Kind zwischen ihren Beinen herausdrängt? Oder hat sie spontan und kopflos den ersten Schrei des Kindes erstickt? Ist, was sie getan hat, im Hinblick auf das Überleben der eigenen Art oder des Individuums in irgendeiner Weise als angemessenes Verhalten zu werten? Von Kängurus weiß man, dass sie im Fall höchster Lebensgefahr ihr Junges aus dem Beutel streifen und zurücklassen, um schneller fliehen zu können.
    Von ferne höre ich Schmaleisen fragen, ob ich eine jüngere Schwester habe, auf die ich als Kind eifersüchtig war. Er erlebe es nicht zum ersten Mal, dass eine Studentin mit Hilfe der Soziologie die Grundkonstellationen ihrer Sozialisation nachzustellen versucht.
    Zorn sammelt sich in mir. Die Berichte über Bonobos sind geprägt vom hoffnungsvollen Staunen angesichts einer nicht- patriarchalen Sozialstruktur. Von der haben die Wissenschaftler und Journalisten jedoch praktisch nichts gesehen als Sex. Sie möchten den Traum vom Kuschel-Matriarchat nicht aufgeben, in dem die Männer mindestens zwanzig Mal am Tag zum Zug kommen. Und nun unterstellt Schmaleisen mir unlautere Interpretation des Beobachteten. Ich bin plötzlich die Böse, weil ich Eifersucht und Mordlust entdecke.
    Ich kann meine Gedanken nicht sammeln, um ihm zu widersprechen. Meine Mutter hämmert in mir. Ich frage mich plötzlich, ob mich das Thema Infantizid tatsächlich so sehr beherrscht, dass ich Maras Handlung falsch interpretiert habe. Womöglich habe ich mich verraten. Gleich wird Schmaleisen seine Theorie von meiner Eifersucht auf eine kleine Schwester korrigieren und feststellen: Sie arbeiten das Trauma Ihrer Kindheit als Tochter einer Kindsmörderin ab.
    Werde ich immer und überall Beispiele und Erklärungen suchen für die monströsen Verbrechen, die meine

Weitere Kostenlose Bücher