Die Ahnen von Avalon
Traum an!
Micail merkte, dass Helligkeit um seine geschlossenen Augenlider war. Er holte tief Luft und stöhnte auf, als sich seine geschundenen Rippen beschwerten, doch plötzlich schrien all seine Sinne auf, da sie Tirikis Anwesenheit wahrnahmen. Ihre weichen Lippen berührten seine Stirn, und er umfasste sie leidenschaftlich und hielt sie fest, als sie den Mund auf seinen senkte.
Sein Herz klopfte ungestüm, während der Kuss sich ihm in jeden Nerv einbrannte. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er lebte und dass er Tiriki in den Armen hielt.
Er öffnete die Augen.
»So ist es besser.« Tiriki hob den Kopf gerade so viel, dass er ihr Lächeln sehen konnte.
»Du bist hier!«, flüsterte er. »Wirklich und wahrhaftig hier! Du gehst nicht wieder weg?«
»Weder gehe ich weg, noch lasse ich dich gehen«, antwortete sie und fügte etwas ernüchternd hinzu: »Wir haben zu viel Arbeit zu erledigen.«
Micail merkte, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Ich… ich bin unwert«, brachte er zähneknirschend hervor. »Zu viele sind meinetwegen gestorben.«
»Das stimmt«, antwortete sie in scharfem Ton. »Was erst recht ein Grund dafür ist, weiterzuleben und Wiedergutmachung zu leisten. Und der erste Schritt ist, dass du gesund wirst.« Sie richtete sich auf und winkte Elara herbei, die mit einer Holzschüssel in den Händen in der Türöffnung stand.
»Das ist ein Eintopfgericht, und es schmeckt recht gut«, sagte Tiriki. »Ich habe vorhin auch davon gegessen. Zumindest braucht man hier nicht zu hungern. Du isst das jetzt - deinem Mund fehlt nichts -, und dann sehen wir weiter.«
Micail starrte sie wortlos an, doch anscheinend erwartete sie keine Antwort. Er hielt es für einfacher, sich den Frauen zu fügen und ihnen zu gestatten, ihm beim Aufrichten zu helfen, als sich zu widersetzen. Und als er das Gericht kostete, stellte er fest, dass er einen gesegneten Appetit hatte.
»Tiriki hat sich verändert«, sagte Galara, während sie Elara den Korb mit frisch geschnittener Weidenrinde reichte. »Nicht, dass ich sie zu Hause allzu oft zu Gesicht bekommen hätte. Als sie Micail heiratete, war ich noch ein Säugling. Sie ist mir immer irgendwie zerbrechlich vorgekommen - weißt du, mit ihrer leisen Stimme und dem blassen Gesicht.«
»Ich weiß, was du meinst. Sie hat sich zweifellos sehr viel aufgeladen!« Elara tauchte einen Holzlöffel in einen Topf, der zwischen den Kohlen stand, und prüfte die Temperatur des Wassers darin.
In der Woche seit ihrer Ankunft war Tiriki wie ein Sommersturm durch das atlantidische Gelände gefegt, hatte dafür gesorgt, dass die Toten mit der angemessenen Würde beigesetzt wurden und die verletzten Überlebenden ausreichende Versorgung durch Heilkundige erhielten. All jene, die in der Lage waren, praktische Arbeit zu verrichten, betraute sie mit verschiedensten Aufgaben; dadurch wurden sie von ihrem Kummer und dem nachwirkenden Entsetzen abgelenkt.
»Wir sind nun mal daran gewöhnt, dass Männer das Sagen haben, und finden uns damit ab«, meinte Elara, »doch im Caratra-Tempel wird gelehrt, dass die Kraft des Handelns weiblich ist und dass jeder Gott seine Göttin braucht, die ihn zum Handeln bewegt. Ohne Frauen bringen Männer möglicherweise nie etwas zustande.«
»Nun, im Fall von Micail und Tiriki trifft das zweifellos zu«, pflichtete Galara ihr bei. »Er hat zwar einiges getan - und ich wünschte, manches davon hätte er unterlassen -, aber ohne sie war er stets nur halb bei der Sache. Es ist seltsam. Ich dachte immer, er sei der Stärkere, aber sie kam ohne ihn besser zurecht als er ohne sie. Vielleicht liegt Damisa gar nicht so falsch mit ihrer Auffassung, dass wir eigentlich überhaupt keine Männer brauchen.«
»Naja, das solltest du ihnen aber lieber nicht sagen!«, meinte Elara lachend. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich allerdings möchte nicht ohne sie sein. Und ich vermute, wenn wir sie nicht hätten, damit sie für uns eine Art Warnung darstellen, würden wohl wir Frauen alle möglichen Dummheiten anstellen.«
Plötzlich wurde sie ernst, als ihr Lanath einfiel. Er hatte das Bewusstsein nicht wieder erlangt, nachdem er von einem Stein getroffen worden war, und sie war sich über ihre Gefühle hinsichtlich des Verlustes immer noch nicht im Klaren. Sie hatte ihn nicht geliebt, aber er war immer da gewesen…
»Wirst du mit Tiriki zu diesem Heiligen Berg gehen, von dem sie uns erzählt hat?«, fragte Galara. »Sie ist immer noch meine Meisterin, und ich
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