Die Ahnen von Avalon
diesem letzten Angriff erholt hatten, nachdem das Leben Chedans Körper verlassen hatte.
Die meisten begriffen, was geschehen war; sie wussten, wenn er nicht gehandelt hätte, wären sie wahrscheinlich alle gestorben. Doch Erkenntnis und Begreifen waren kein Trost für den Verlust, den sie erlitten hatten.
Tiriki erinnerte sich, wie Chedan und sie damals auf der Purpurschlange gezwungen gewesen waren, eine Amputation durchzuführen, nachdem einem Seemann von einem umgeknickten Mast die Hand zerquetscht worden war. Der Mann hatte überlebt, doch sie erinnerte sich noch gut, wie quälend es gewesen war, ihn zu beobachten, wenn er nach etwas hatte greifen wollen und dann erst gemerkt hatte, dass seine Hand nicht mehr da war. Jetzt geht es mir wie ihm, dachte Tiriki und weinte lautlos, aber Ihr seid nicht da, um mir einen Haken anstelle meiner fehlenden Hand zu machen… Chedan, Chedan, ich wünschte, ich hätte einen körperlichen Schaden davongetragen, anstatt ohne Eure Weisheit allein zurückzubleiben… ohne Euren Rat… Euer geduldiges Lächeln…
»Der Sonnenfalke hat uns verlassen«, jammerte eine Frau aus dem Sumpfvolk, deren Kinder der Magier vor der großen Seuche bewahrt hatte. Doch irgendwann verebbte das Wehklagen der Trauernden allmählich, und Otter deutete nach oben. Die Tränen in ihren Augen trockneten, an ihre Stelle trat Erstaunen. Ein Falke - Tiriki hielt ihn für einen Merlin - kreiste über dem Heiligen Berg, hoch oben in der Rauchsäule schwebend, als ob Chedans Geist für einen letzten Abschiedsgruß die Gestalt seines Namensvetters angenommen hätte. Und während sie hinaufschauten, neigte der Falke die Flügel, vollführte eine Spirale und drehte durch die sich aufhellende Luft nach Osten ab.
»Ich verstehe…«, flüsterte Tiriki und machte eine Verbeugung, als ob der Magier höchstselbst vor ihr stünde. In diesem Augenblick spürte sie deutlich seine Wärme. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich dabei ertappte, dass sie an den letzten Abend vor dem Kampf dachte, als Chedan mit ihr gesprochen hatte - sie gezwungen hatte zuzuhören, als er von seinem unerschütterlichen Glauben an die Prophezeiung gesprochen hatte. »Eigentlich solltet Ihr das nicht erfahren, aber Micail ist dazu ausersehen, mein Nachfolger zu werden!«, hatte er ihr eröffnet. »Und deshalb glaube ich immer noch, trotz allem, was geschehen ist, dass er dazu bestimmt ist, den neuen Tempel zu errichten.«
Sie hatte nicht darüber nachdenken wollen, doch Chedan hatte darauf bestanden und gesagt: »Von allen Dingen, die von uns Sterblichen verlangt werden, ist das schwierigste das Vergeben. Um das wirklich zu können, muss man sich wahrscheinlich so verhalten, als ob man bereits vergeben hätte, lange Zeit bevor man es wirklich tut.«
Selbst zu jenem Zeitpunkt, als Tiriki es nicht gewagt hatte, über den anstehenden Zwist hinauszudenken, hatte Chedan daran geglaubt, dass sie überleben würden - und dass sie, wenn alles vorüber wäre, ins Land der Ai-Zir gehen und Micail suchen müsste.
Sie brachte ein Lächeln zustande und sagte leise: » Jetzt höre ich Euch, alter Freund. Ich hoffe, dass ich Euch diesmal verstehe…«
Als die Trauernden den Abstieg vom Berg begannen, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Selbst Domaras sonst so überschäumendes Temperament war durch die allumfassende Traurigkeit gedämpft worden. Doch sobald sie das verglühte Einäscherungsfeuer hinter sich gelassen hatten, rannte das kleine Mädchen voraus und jagte die anderen Kinder den Weg hinunter.
Einen kurzen Augenblick später kam sie mit großen Sprüngen wieder zurück.
»Eier!«, rief sie laut. »Mama, komm, schau mal! Riesige Zaubereier!«
Tiriki wechselte einen viel sagenden Blick mit Liala und eilte zu ihrer Tochter. War der Omphalos-Stein aus seinem Versteck unter dem Berg ausgebrochen?
Dann wurde ihr klar, was sie vor sich sah, was da verstreut im Gras lag und an den Hängen des Heiligen Berges wuchs - weißliche Steine. Einige hatten beinahe die Größe von Felsbrocken, andere waren tatsächlich so klein wie Eier, doch alle waren von gerundeter Form und hatten eine erstaunlich glatte Oberfläche.
»Caratra möge uns beschützen!«, rief Liala keuchend, als sie Tiriki eingeholt und sich neben sie gestellt hatte. »Der verfluchte Omphalos hat geworfen. Er hat Eier gelegt! Rührt sie nicht an! Die Götter allein mögen wissen, was sie anrichten können…«
Hin und her gerissen zwischen Lachen und Weinen, konnte Tiriki
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