Die Ahnen von Avalon
Ein neuerlicher Stoß erschütterte die Erde, und sie ahnte, dass sie auch mit vereinten Kräften die Zerstörung kein zweites Mal hätten aufhalten können.
Sie klammerte sich an den Türpfosten und schaute ins Freie. Im Garten peitschten die Bäume hin und her, und über dem Berg breitete sich gleich einer riesigen Pinie eine gewaltige Rauchwolke aus. Die Krone bestand aus Asche, und aus dem mächtigen Stamm quollen immer neue schwarze Wolken und verdeckten den Himmel. Unter ihren Füßen hob und senkte sich der Boden.
Die Aschewolke über dem Berg war mit hellen Pünktchen durchsetzt, und auf die Hänge regnete glühende Schlacke herab.
Chedan hatte ihnen von Ländern erzählt, die so tief im Meer versunken seien, dass nur noch ein paar Gipfel aus dem Wasser ragten. Ahtarrath, so viel war klar, würde nicht sang-und klanglos verschwinden, sondern sich mit Titanenkräften zur Wehr setzen. Tiriki wusste nicht, ob sie darüber jubeln oder vor Angst wimmern sollte.
Hinter den Bäumen um das Haus der Fallenden Blätter bewegte sich etwas - einer der goldglänzenden Türme wankte und stürzte ein. Der Boden erzitterte wie unter einem neuen Erdstoß. Tiriki stellte sich den Schutthaufen vor und erschauerte. Im nächsten Augenblick schallte von der anderen Seite der Stadt ein Donnerschlag herüber.
»Der zweite Turm…«, flüsterte Damisa.
»Die Stadt ist bereits zur Hälfte geräumt. Vielleicht waren nur wenige Menschen dort…«
»Vielleicht sind die Toten auch zu beneiden«, entgegnete Damisa, und Tiriki konnte ihr nicht widersprechen. Immerhin schien die Gefahr vorerst gebannt, denn alles, was einstürzen konnte, lag nun bereits in Trümmern.
»Könnte jemand einen Besen holen?«, murmelte Aldel. »Wir sollten den Schutt wegräumen.«
»Und wer fegt den Schutt von den Straßen der Stadt?«, fragte Iriel mit schriller Stimme. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. »Das ist das Ende! In diesem Haus wird nie wieder jemand wohnen!«
»Nicht die Nerven verlieren!« Tiriki nahm sich zusammen, so schwer es ihr auch fiel. »Man hat euch genau erklärt, was zu tun ist, wenn dieser Augenblick kommt. Zieht euch an und schlüpft in eure festesten Schuhe. Nehmt die dicken Mäntel, auch wenn es warm wird - sie schützen euch vor der Asche und dem Glutregen. Dann schultert eure Seesäcke und geht hinunter zu den Schiffen.«
»Aber es ist noch nicht alles gepackt«, rief Kalaran, der sich mannhaft bemühte, seine Angst zu beherrschen. »Wir konnten noch nicht einmal die Hälfte der Dinge zusammentragen, die wir mitnehmen sollen. Das Beben hat aufgehört. Sicher bleibt uns jetzt noch etwas Zeit…«
Tiriki spürte immer noch ein leichtes Zittern, aber das Schlimmste war für den Moment tatsächlich vorüber.
»Mag sein, aber nehmt euch in Acht. Einige von euch sind bestimmten Priestern als Boten zugeteilt. Betretet kein Gebäude, das irgendwelche Schäden hat - schon ein leichtes Nachbeben könnte es einstürzen lassen. Und haltet euch nicht zu lange auf. In zwei Stunden sollten alle an Bord sein. Vergesst nicht: Was einmal hergestellt wurde, lässt sich auch wieder anfertigen - nichts ist so kostbar, dass es den Einsatz eures Lebens rechtfertigen würde. Und nun will ich von jedem noch einmal hören, was er zu tun hat.«
Einer nach dem anderen zählte seine Pflichten auf, und Tiriki nickte oder gab neue Anweisungen. Die Schüler waren ruhiger geworden und zerstreuten sich, um ihre Sachen zu holen. Die alten Baumeister hatten wahrscheinlich selbst nicht geahnt, wie solide sie gearbeitet hatten - das Haus der Fallenden Blätter hatte standgehalten, nur die Ornamente waren abgefallen und lagen zerbrochen auf dem Boden.
»Ich muss wieder in den Palast. Damisa, du holst deine Sachen und kommst mit mir.«
Tiriki wartete an der Tür, bis ihre Schülerin zurückkehrte. Immer noch ging der Ascheregen auf den Garten nieder. Hin und wieder traf ein Stück glühender Schlacke eine Pflanze und brachte sie zum Qualmen. Von der Stadt wogten neue Rauchwolken herüber. Sie fragte sich dumpf, wie lange es wohl dauern würde, bis alles in Flammen stünde.
»Ich dachte, die Sonne ginge auf«, sagte Damisa neben ihr, »aber der Himmel bleibt dunkel.«
»Die Sonne ist aufgegangen, aber wir werden sie wohl kaum zu sehen bekommen«, antwortete Tiriki und hob den Kopf. Ein schwarzes Leichentuch breitete sich über die Stadt. »An diesem Tag gibt es keinen Morgen.«
Der Glutregen hielt an, als Tiriki und Damisa das Haus der Fallenden
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