Die Ahnen von Avalon
Unordnung nicht zu übersehen. Neben der Tür warteten die prall gefüllten Seesäcke, die sie mit auf die Reise nehmen wollten, auf den letzten hastigen Abschied.
Das unruhig flackernde Licht hinter dem Vorhang des Heiligtums zog ihren Blick auf sich. Ahtarra hatte viele Tempel, und jeder Tempel hatte seine Priester. Dennoch - Tiriki musste lächeln - wurde die Göttin mit mehr Inbrunst verehrt als die männlichen Götter. Noch die ärmlichste Hirtenkate, die kleinste Fischerhütte hatte eine Nische für ihr Bildnis, und wenn es kein Öl für eine Lampe gab, so ließen sich doch immer ein paar Blumen finden, um sie der Großen Mutter zu opfern.
Sie erhob sich und zog den dünnen Schleier vor dem Altar beiseite. Die Lampe dahinter war aus Alabaster und brannte nur mit dem feinsten Öl, aber die Elfenbeinstatue war so vergilbt und vom Alter zerfressen, dass die Züge kaum noch zu erkennen waren. Ihre Tante Domaris hatte sie aus dem Alten Land mitgebracht, und zuvor hatte sie deren Mutter gehört. Das Bildnis war durch so viele Generationen gegangen, dass die Anfänge der Linie noch nicht einmal in den Tempelarchiven verzeichnet waren.
Tiriki entzündete einen Kienspan an der Lampe und hielt ihn an die Kohle, die stets in einer Schale daneben auf einem Sandbett bereitlag.
Dann sprach sie leise das alte Gebet: »Weiche von mir, was unrein ist.« Schon spürte sie den vertrauten Ruck in ihrem Bewusstsein. »Weiche von mir, was in Sünde lebt. Nicht berühren soll das Böse die Spuren ihrer Füße und den Schatten ihres Schleiers. Zuflucht will ich suchen unter dem Mantel der Nacht und unter dem Kreis ihrer weißen Sterne.«
Sie nahm einen tiefen Atemzug und ließ die Luft langsam ausströmen. Die Kohle hatte angefangen zu glühen. Sie nahm ein paar Weihrauchkörner und streute sie darüber. Als die ersten beißenden Schwaden aufstiegen, veränderte sich ihr Bewusstsein noch weiter.
Sie senkte den Kopf und berührte mit den Fingern Stirn, Lippen und Brust. Danach hoben sich ihre Arme wie von selbst und nahmen die vertraute Gebetshaltung ein.
»Herrin…« Die Bitte erstarb ihr auf den Lippen. Das Unheil ließ sich nicht mehr abwenden, dafür war es zu spät. »Mutter…«, begann sie von neuem, doch dann wurden alle Worte, die noch hätten folgen sollen, von einer Woge von Gefühlen überschwemmt.
Sie spürte, dass sie nicht allein war.
Die Göttin sprach zu ihr. » Ich bin die Erde unter deinen Füßen… «
»Aber die Insel wird zerstört werden!«, klagte Tirikis Seele.
» Ich bin die brennende Flamme… «
»Die Wellen werden die Flamme löschen!«
»Ich bin die wogende See… «
»Dann bist du Chaos und Zerstörung!«, empörte sich Tirikis innere Stimme.
» Ich bin die Nacht und die kreisenden Sterne… «, kam es gelassen zurück, und Tirikis Seele klammerte sich an diese Gewissheit.
» Ich bin alles, was ist, was war und was sein wird, und keine Macht der Welt kann dich von mir trennen …«
Für einen Moment stand die Zeit still, und Tiriki erkannte, dass die Göttin die Wahrheit sprach.
Als sie wieder zu sich kam, war der Weihrauch verbrannt, und die Kohle war grau. Doch im flackernden Schein der Lampe schien es ihr, als lächelte die Große Mutter ihr zu.
Tiriki holte tief Atem und hob die Statue von ihrem Sockel. »Ich weiß, das Symbol ist nichts, und die Wirklichkeit ist alles«, flüsterte sie. »Dennoch nehme ich dich mit. Die Flamme mag weiter brennen, bis sie eins wird mit dem Feuer des Berges.«
Sie hatte das Bildnis kaum eingepackt und in ihren Seesack gesteckt, als die Glöckchen vor dem Eingang leise anschlugen. Sie lief sogleich zur Tür, damit Micail nicht wach würde. Draußen stand ein Bote. Sie legte den Finger an die Lippen und winkte ihn in den Korridor hinaus.
Ihr Anblick ließ den Mann erröten. »Verzeiht mir, Herrin«, begann er.
»Schon gut.« Sie band sich seufzend einen Gürtel um das lose fallende Gewand. Schließlich hatte sie entsprechende Anweisungen hinterlassen. »Ich weiß ja, Ihr kommt nicht ohne Grund. Was führt Euch zu mir?«
»Ihr werdet im Haus der Zwölf gebraucht, Herrin. Dort ist alles in Aufruhr - aber auf Euch werden sie hören!«
»Wieso?« Tiriki blinzelte überrascht. »Was ist mit Gremos, der Hausmutter? Ist ihr etwas zugestoßen?« Sie runzelte die Stirn. »Es wäre doch ihre Pflicht…«
»Verzeiht mir, Herrin, aber die Hausmutter ist… nicht mehr da.«
»Nun gut. Wartet bitte. Ich ziehe mich rasch an und komme mit Euch.«
»Ruhe
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