Die Ahnen von Avalon
hätten wir nicht zweimal überlebt! Und ihr glaubt doch wohl nicht, das Leben wäre nicht mehr lebenswert, nur weil es anders ist als bisher?«
»Aber wir wissen doch wirklich nicht, wo wir sind!«, wandte Kalaran ein, und alle anderen stimmten ihm mit leisem Gemurmel zu.
»Schlimmer noch«, rief die junge Selast, die neben Damisa saß. Durch ihren zierlichen Körper lief ein Zittern. »Die Matrosen sagen, wir seien über den Rand der Welt hinausgesegelt!«
»Nach meiner Erfahrung«, antwortete Chedan und warf einen Blick über die Schulter, »erzählen Seeleute jungen und unerfahrenen Menschen gern alle möglichen Schauergeschichten. Ich würde euch raten, nicht alles zu glauben, was ihr so hört.
Aber lasst uns für einen Moment annehmen, die Gerüchte wären wahr, und wir wären tatsächlich über den Rand der Welt hinausgesegelt. Woher wollt ihr wissen, dass wir nicht ebenso leicht auf der anderen Seite wieder auf die Welt zurücksegeln können? Das Meer ist riesig und wild, aber es ist endlich. Früher oder später werden wir Land finden. Eines kann ich euch freilich jetzt schon versprechen, meine lieben jungen Freunde: Wenn wir wieder eine Küste erreichen, werden wir dort wahrscheinlich keine warmen Häuser vorfinden, und es werden auch keine Diener mit köstlichen Speisen und erfrischenden Getränken auf uns warten!«
Seine Worte waren wie eine Prophezeiung. Genau in diesem Augenblick schrie der Mann mit den Adleraugen, den Reidel als Ausguck auf den Mast geschickt hatte, laut auf und rief: »Land in Sicht! Kapitän, da am Horizont, das ist keine Wolke! Es ist Land! Ich sehe es ganz genau!«
In ihrer Begeisterung hatten alle vergessen, dass Land zu sehen und an Land zu gehen nicht dasselbe war. Als sie näher kamen, beschrieben die mit den schärfsten Augen hohe Klippen aus bräunlichem Fels, von Wind und Wasser zu Säulen und Türmen geformt, und zu ihren Füßen einen wilden Strudel aus schäumendem Wasser.
»Ich denke, wir haben die Kasseritiden gefunden, die Zinn-Inseln, deren südliches Horn die Händler Beliri'in nennen«, hauchte Chedan. »Das müssen die Klippen an der Spitze der Halbinsel sein. An der Südwestküste gibt es eine Bucht mit einer Insel, dort pflegten die Händler vor Anker zu gehen.«
Reidel stemmte sich gegen das Ruder, auch die Matrosen taten, was sie konnten, aber der Wind kam von Osten, und ohne Großsegel gelang es ihnen lediglich, die Purpurschlange mit der Breitseite zu den scharfen Felsen zu drehen. Reidel fluchte vor Enttäuschung und steuerte sein Schiff wieder auf die offene See hinaus, wo es halbwegs in Sicherheit war.
»Gibt es weiter nördlich noch andere Häfen?«, fragte Tiriki leise. Sie konnte sich von dem Anblick erst losreißen, als die Küste schon fast im Abendnebel verschwunden war.
»Die Küste hat zahlreiche Buchten«, versicherte Chedan. »Die Insel ist ziemlich groß. Vor vielen Jahren liefen unsere Schiffe zumeist in einen weiter nördlich gelegenen Hafen ein. Er befand sich an der Mündung eines Flüsschens, dem unsere Leute nach einem Fluss im Alten Land den Namen Naradek gaben. Sie erzählten von einem Hügel, geformt wie eine Pyramide, auf dem sie einen Sonnentempel errichtet hätten. Doch als das Alte Land unterging, riss die Verbindung ab. Ich glaube nicht, dass heute noch etwas davon übrig ist.«
Reidel rang sich ein Lächeln ab. »Wenigstens wissen wir jetzt, wo wir sind. Morgen gelingt es uns sicherlich, an Land zu kommen.«
Doch das schien der Wind nicht zulassen zu wollen. Drei Tage lang kämpften sie sich an der felsigen Küste entlang und schlugen sich mit widrigen Strömungen und schlechtem Wetter herum. Die einzige Nahrung waren ein paar Fische, die sie aus den Wellen holten, und davon wurden sie mit jedem Tag weniger satt.
Am vierten Tag flaute der Wind ab. Im Morgengrauen erblickten sie eine große Flussmündung mit unzähligen Armen, ein Gebiet, wo Land und Wasser sich mischten, und dahinter einen Halbkreis von schützenden Bergen. Eine Kette von bewaldeten Inselchen wand sich wie eine Riesenschlange durch die Sümpfe landeinwärts auf ein Festland zu, das noch hinter Nebelschleiern verborgen war.
Nach und nach sammelten sich die Flüchtlinge an Deck, um das unbekannte Land zu bestaunen. Sie konnten es kaum fassen, tatsächlich ein Ziel gefunden zu haben. Tiriki stand allein am Bug des Schiffes und kämpfte mit den Tränen. Sie hatte wohl im Unterbewusstsein damit gerechnet, dass Micail am Ende der Reise auf sie warten
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