Die Akte Daniel (German Edition)
reichen.
Daniel wusste nicht, wann sein Vater oder seine Mutter wieder kam. Es konnte Tage dauern – manchmal. Bis dahin hieß es, sich mit heißem Tee über Wasser zu halten. Daniel kannte das schon.
Und wenn seine Eltern einmal Zuhause waren, saß sein Vater meist vor dem Fernseher und schlief irgendwann über der fünften Flasche Bier ein und seine Mutter versuchte, in die Rolle einer richtigen Mutter zu schlüpfen.
Sie raffte sich dann ab und an dazu auf, etwas Richtiges zu kochen, aber meist saß sie nur da, zog nervös an ihrer Zigarette und blätterte durch Zeitschriften in der Hoffnung, dass Daniel sie nicht ansprach.
Er hätte also genauso gut Luft für seine Eltern sein können. Es sei denn, er hatte irgendetwas falsch gemacht, dann hagelte es Schläge und Flüche. Dabei wünschte sich Daniel manchmal wirklich, sich unsichtbar machen zu können.
Die Chips waren wie immer fad und schmeckten nur nach Tage altem Fett. Daniel zwang sich zu kauen; irgendetwas musste er in den Magen bekommen. Und der Zucker im Ketchup half immer.
Als ein Schatten kurzzeitig das Licht von der Straße verbarg, sah er auf. Jemand setzte sich zu ihm und trank eine Diät-Cola.
Daniel senkte seinen Blick wieder auf sein Essen. Er kaute sorgfältig. Dann jedoch schaute er wieder irritiert auf. Er empfing von diesem Menschen keine Gedanken. Es war ein Mann, den er auf Mitte zwanzig schätzte. Dieser sah ihm gelangweilt beim Essen zu und sagte kein Wort.
Er schien auch nicht recht in diese Gegend zu passen mit dem sauberen, hellen Anzug mit der Krawatte, aber das ging Daniel ja nichts an. Er konzentrierte sich wieder auf sein Essen. Umso besser, wenn er von dem Typen nichts »hörte«, dann hatte er seine Ruhe. Und vielleicht war Unterzuckerung ja wirklich der Grund für seine Einbildungen. Schön wäre es.
Ohne es recht zu wollen, hob Daniel wieder den Blick.
Der Mann war weg, ohne dass er es bemerkt hatte.
Daniel fragte sich, ob er jetzt auch schon Erscheinungen hatte. Er wusste, dass die psychiatrische Klinik nur auf ihn wartete, sollte jemand noch einmal erfahren, dass sich seine »Symptome« nicht gelegt hatten.
Mit zehn Jahren war er in Behandlung gewesen. Danach hatte er gelernt, welche Lügen er erzählen musste, um in Ruhe gelassen zu werden.
Daniel stopfte sich die letzten Reste seiner Mahlzeit in den Mund. Auf die würde er auch mit Erscheinungen nicht verzichten.
Als auch der letzte Happen verdrückt war, stand Daniel auf. Es ging ihm etwas besser, aber nur etwas. Halbherzig winkte er Mrs. Dalton zum Abschied, dann ging er ... ja, wohin eigentlich? Bestimmt nicht nach Hause.
Vielleicht zum Spielplatz?
Für den war er natürlich zu alt, und die Gerüste waren morsch und mit Graffiti verschmiert, aber wenigstens hielt sich dort vor dem Abend niemand auf. Erst dann kamen die älteren Jugendlichen mit ihren Bierflaschen und ihren Joints.
Die Hände in den Hosentaschen schlurfte er dorthin. Er kam jedoch nicht weit. Wieder legte sich ein Schatten über ihn. Dieses Mal war er eindeutig erschrocken.
Es war wieder der Mann. Daniel sah ihn sich genauer an und fror unwillkürlich. Instinktiv wich er zurück.
So durchschnittlich und gewöhnlich der Typ auch wirkte, er hatte jetzt etwas Bedrohliches an sich; die gedankliche Leere, die von ihm ausging, verstärkte den Eindruck noch. Daniel runzelte die Stirn und wollte sich soeben umdrehen und weglaufen, als er unvermittelt am Arm festgehalten wurde. Er wollte noch fluchen, schreien und um sich treten, aber da spürte er schon den Stich einer Nadel am Arm.
Und dann war da nichts mehr.
2
Zentrale der Tracker des Ordo Divinatio, Lower Thames Street & Petty Wales, London
George klebte mit dem Gesicht am Monitor und sah sich die Parameter an. Er schüttelte immer wieder den Kopf. Seine wässrig blauen Augen waren Zeuge dessen, was sein Verstand nicht fassen wollte.
»Wie konnte uns der Junge durch die Lappen gehen? Er hätte schon vor Jahren erfasst werden müssen. Was ist mit unseren Leuten los? Können sie einen Begabten nicht mehr von einem Unbegabten unterscheiden? Müssen wir erst durch die Firma darauf gestoßen werden? Ah, ich hasse meinen Job!«, fluchte er einige Dezibel laut.
Leider war keiner da, der ihn hören konnte, nur diverse Computer und Geräte brummten monoton vor sich hin.
George verglich noch einmal die Zahlen und griff dann zum Telefonhörer. »Stella? Ich habe mir gerade die Daten angesehen, das ist der Wahnsinn. Seht zu, dass
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