Die Akte Daniel (German Edition)
ihr den Jungen mit den anderen dort rausbekommt, wo die Firma ihre liebste Beute festhält. Und beeilt euch!«
»Die haben einen?«, fragte sie. George konnte hören, wie sie durch die Gegend stolperte und wohl ihre Schuhe anzog. Sie war die ganze Nacht unterwegs gewesen. Eigentlich hatte sie jetzt frei.
»Ja, die haben einen und nicht nur einen Irgendjemand: Sie haben einen Jungen, der unsere Skala sprengt! Wohl ein Mehrfachbegabter oder ein Telepath jenseits der 10, und so wie ich die Aktivitäten unserer »Freunde« einschätze, ist die Jagd zu Ende und er wird wohl bald reisefertig gemacht. Beeilt euch!«
»Ich bin schon unterwegs«, erwiderte Stella, »muss nur noch Jeremy und Gordon wecken. Wir bekommen das schon hin!« Es polterte erneut im Hintergrund und George hörte ein paar üble Flüche.
»Schick uns bitte alle Daten runter, die du hast, ja?«, bat Stella noch, dann legte sie auf.
George schob sich seine Brille wieder auf den oberen Teil seiner Nase und tippte. Er fütterte den Laptop seiner Mannschaft. Der Junge hieß Daniel McTyer und war der Sohn von Sarah McTyer, geborene Miller, und Thomas Oliver McTyer. Er war vierzehn Jahre alt und ging auf eine katholische Schule für Jungen in einem schäbigen Vorort von Manchester. Seine Leistungen waren im unteren Segment. Er galt als unaufmerksam, zumeist krank und war insgesamt ein Einzelgänger.
Im Alter von zehn Jahren diagnostizierte ein Kinderarzt eine leichte Schizophrenie. Die Eltern schickten ihren Sohn zur Behandlung. Als die Versicherung nicht mehr zahlte, endeten die Besuche. Die Eltern zählten zum Bodensatz der Gesellschaft und der Junge würde niemals dieses Segment verlassen, da er nicht im Geringsten aus der Masse der Verlierer herausragte. Der Vater arbeitete im Schichtdienst in den Docks und war selten zu Hause. Die Mutter ging in einem Nachtclub arbeiten. Als ehemalige und jetzt verwelkende Schönheit gab es nicht mehr sehr viel Geld zu verdienen.
Es war einfacher, einer solchen Familie den Sohn zu nehmen als einer reichen. So traurig es war: Die Behörden sahen keinen Grund, einem potenziellen Kriminellen nachzusetzen, wenn dieser doch besser sehr früh starb.
George setzte noch das verfügbare Bild von Daniel hinzu: ein schmaler Junge, dessen schlaksige Figur auf schnelles Wachstum und zu wenig Essen hindeutete. Schwarze strubbelige Haare, dunkle Augen, in denen sich Einsamkeit und Misstrauen zu spiegeln schienen.
George seufzte und rieb sich den Nasenrücken. Falls sie den Jungen wirklich der Firma abjagen konnten, würde es alles andere als einfach mit ihm werden, das wusste George schon jetzt.
Besser wäre es gewesen, sie hätten ihn bemerkt, als er noch keine drei Jahre alt gewesen war. Aber soviel Glück hatte man eben nicht immer. Und die Träumer waren leider nicht immer zuverlässig. Zeit war schließlich relativ und das, was sie erträumten, konnte sowohl in der Vergangenheit, der Gegenwart als auch in der Zukunft liegen. Sie wussten es selbst nicht immer.
George lehnte sich zurück und ließ seinen Rücken knacken.
Er wurde alt. Zu alt.
Mit seinen dreiundvierzig Jahren war eigentlich über die übliche Zeit für einen Tracker des Ordo hinaus. Eigentlich nahm man früher oder später einen reinen Schreibtischjob an. Als Tracker musste er jederzeit einsatzbereit sein und durfte nicht jeden Morgen seine Knochen spüren, wenn er aufstand. Aber George hatte noch nicht vor, diesen Job so bald an den Nagel zu hängen. Dafür war er zu ehrgeizig und zu gut. So lange es noch möglich war, würde ihn niemand aufhalten.
Er war das Organisationstalent ihrer Gruppe schlechthin, und auch ohne irgendwelche übernatürlichen Kräfte konnten sich seine Leute auf seine Recherche und seine Spürnase für die richtigen Wege verlassen. Jedenfalls hatten sie unter seiner Führung eigentlich immer Erfolg gehabt. Hoffentlich nun auch jetzt.
Es stand in solchen Fällen wie diesen immer mehr als nur der Ruf des Teams auf dem Spiel. Versagten sie, verschwand ein Kind hinter den Schleiern der Kage no Kiseki oder der Firma, wie sie sie meist nur nannten.
Sie hingegen waren der Ordo Divinatio , eine uralte Organisation, deren Anfänge im Staub der Geschichte zu suchen waren, und die vor einigen Jahrzehnten mit der Firma einen gefährlichen Feind bekamen, wie ihn der Ordo zuvor noch nicht kennengelernt hatte. Und der Ordo hatte viele Feinde im Laufe seiner Geschichte gehabt.
Georges Team bestand mit aus den besten Trackern, die der Ordo hatte
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