Die Akte Golgatha
sich einmal geliebt; aber nach mehrmaliger Wiederholung hatte selbst dieser Treffer an Wirkung verloren. Ohne Zweifel wäre Veronique zu einer groß angelegten Intrige fähig. Sie hatte sie ja sogar angekündigt. Aber war sie in der Lage, den Tod eines Patienten zu inszenieren? Veronique hatte kaum Kontakte in die Klinik. Den Umgang mit Ärzten schätzte sie nicht. »Alles Spießer«, meinte sie einmal, »nur Innereien und Karriere im Kopf, widerlich!« Nein, auch Veronique schied als Urheberin dieses Anschlags aus. Und der mysteriöse Anruf machte in diesem Zusammenhang noch weniger Sinn.
Mit dieser unbefriedigenden Erkenntnis ging Gropius zu Bett; aber er lag lange wach. Das Geschehen um den Tod des Patienten hatte ihn mehr aufgewühlt, als er zunächst dachte. Bis es hell wurde, döste er im Halbschlaf vor sich hin.
Am nächsten Morgen in der Klinik empfing ihn seine Sekretärin, eine mütterliche Fünfzigerin – etwas anderes hätte Veronique nie zugelassen – wie stets mit aufgesetzter guter Laune und der Mitteilung, das Obduktionsergebnis im Fall Schlesinger stehe fest, Professor Lagermann bitte um Rückruf.
Lagermann! Obwohl er ihn noch gar nicht gesprochen hatte, war seine Stimme Gropius sofort gegenwärtig. Lagermann könnte der geheimnisvolle Anrufer gewesen sein! Mit gespielter Ruhe betrat Gropius sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er sah, dass seine Hand zitterte, als er die Nummer des Pathologen wählte.
»Es wird Sie nicht überraschen, Herr Kollege, wenn ich Ihnen die Todesursache im Fall Schlesinger nenne«, begann der ohne Umschweife, »der anatomische Befund lautet Leberkoma.«
Gropius brachte kein Wort hervor, und Lagermann fragte zurück: »Sind Sie noch da?«
»Ja, ja«, stammelte Gropius und versuchte mühsam, aber vergebens sich einen Reim auf das soeben Gehörte zu machen.
»Was Sie allerdings überraschen wird, ist der histologische Befund: Das Spenderorgan war nicht clean. Ich konnte Chlorphenvinphos in hoher Dosierung nachweisen. Vermutlich eine Injektion in das präparierte Organ. Der Patient hatte keine Überlebenschance. Unter den gegebenen Umständen war es meine Pflicht, den Staatsanwalt einzuschalten. Mein schriftlicher Bericht folgt.«
»Lagermann!«, murmelte Gropius, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Er spürte kalten Schweiß im Nacken. »Lagermann?« In den folgenden Tagen überstürzten sich die Ereignisse dermaßen, dass es Gropius später schwer fiel, alles in eine chronologische Abfolge zu bringen. Es begann mit einer peinlichen Situation, die sich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ergab, wie sie unseliger nicht hätten ablaufen können.
Beinahe wie im Traum hatte Gropius die Tagesarbeit verrichtet und sich dabei mehrfach ertappt, dass er jeden, der ihm begegnete, misstrauisch musterte, ob der bereits von dem Vorfall wusste. Dabei gewann er den Eindruck, dass die meisten Kollegen ihm geflissentlich aus dem Weg gingen.
Am späten Nachmittag saß Gropius in seinem Besprechungszimmer, einem nüchternen Raum mit Stahlrohrmöbeln und schwarzen Ledersesseln, vor sich auf dem Schreibtisch die Transplantationsakte Schlesinger, und zermarterte sich das Gehirn mit der immer wiederkehrenden Frage: Wie konnte das geschehen? Wer hatte Interesse daran, ein Spenderorgan zu vergiften? Beinahe hätte er das zaghafte Klopfen an der Tür überhört, verunsichert rief er: »Ja bitte?«
Plötzlich stand Rita vor ihm, die Röntgenassistentin, gerade mal halb so alt wie er, bildhübsch und horoskopgläubig, eine seltene Kombination, weil es meist Defizite sind, die den Weg zum Horoskop bereiten. Jedenfalls wusste er, seit sie sich näher kannten – ja, sie hatten ein Verhältnis –, dass er Jungfrau, Aszendent Löwe war mit der Sonne im ersten Haus; aber das war ihm jetzt auch keine Hilfe.
Als Gropius das rothaarige Mädchen im weißen Kittel erblickte, sprang er erschreckt auf und trat ihm entgegen: »Habe ich dir nicht gesagt, in der Klinik kennen wir uns nicht«, zischte er leise.
»Ich weiß«, erwiderte Rita, »aber man tuschelt auf den Stationen, es sei etwas Furchtbares passiert, ein Mord!« Sie schlang die Arme um Gropius' Hals.
Er wehrte sie ab, indem er das Mädchen an beiden Handgelenken fasste. »So, man tuschelt«, bemerkte er unwillig.
»Was ist wahr an diesen Gerüchten?«, rief das Mädchen mit dünner Stimme.
»Nichts! Das heißt, ja, es ist etwas passiert. Ein Spenderorgan war vergiftet. Der Patient ist kurz nach der Operation
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