Die Akte Nr. 113
Gräßlich! Er besieht die Papiere nochmals und
nochmals, beschnüffelt sie sogar und auf einmal fährt
er mit funkelnden Augen in die Höhe und stürzt auf
mich los – ich war gerade am Kamin beschäftigt, das
Feuer zu schüren, weil es ein naßkaltes Wetter war
und er die Wärme liebt. Er also fährt auf mich los
und brüllt: Wer war hier, wer hat meine Papiere in
Händen gehabt? Ich sage so ruhig wie möglich: Niemand
war da, wer sollte auch Ihren versperrten Schreibtisch öffnen?
Er aber packt mich, schüttelt mich wie einen Pflaumenbaum,
daß ich meine, die Seele fährt mir aus dem Leibe und
schreit: Ja, man hat an meine Papiere gerührt, dieser Brief
ist sogar photographiert worden. – Ich war sprachlos, wie hat
er es nur merken können? Ich bin doch vorsichtig zu Werke
gegangen. Aber er ist eben ein geriebener Schuft. Siehst du den Fleck
da, rieche – das ist Chlor, sagte er. Und er schrie und tobte
weiter, dann ließ er den Zimmerkellner kommen und fragte ihn
aus, aber englisch, dann wurde er ruhiger und als der Kellner gegangen
war, gab er mir ein Zwanzigfrankstück und sagte, es
täte ihm leid, so heftig gewesen zu sein, du bist zu dumm
für das, was ich dir zutraute, fügte er
hinzu.«
»Und du glaubst, daß er das wirklich
dachte?« fragte Verduret.
»Ja warum denn nicht?«
»Nun, es scheint, daß du wirklich nicht sehr
schlau bist.«
»Es kann schon sein, daß Ihre Meinung die
richtige ist, Meister. Er ließ sich nämlich diesmal
nicht von mir fahren, sondern nahm den Hotelwagen...«
»Du bist ihm aber doch gefolgt?«
»Natürlich. Er begab sich auf die Bank von
Frankreich und dann zu einem Wechsler – ich glaube, der Herr
Marquis trifft Reisevorbereitungen. – Das ist alles. Was habe
ich jetzt zu tun, Meister?«
»Du mußt sofort nach Hause gehen, dein Herr
wird deine Abwesenheit bemerkt haben, aber nichts sagen, du
fährst also fort ...«
Ein Ausruf Prospers, der am Fenster stand, unterbrach Verduret.
»Was gibt's?« fragte er.
»Clameran ...«
Mit einem Satze waren Verduret und Josef am Fenster.
»Wo?«
»Dort, an der Brücke, hinter dem Zelte der
Orangenverkäuferin.«
In der Tat, der Herr Marquis stand dort und lauerte. Er
mußte seinem Diener unbemerkt gefolgt sein und wartete nun
offenbar, bis daß er wieder aus dem
»Erzengel« heraus käme.
»Du siehst nun, wie recht ich hatte,« sagte
Verduret zu Josef, »nun hilft nur eins, der Bediente in der
hübschen Livree muß verschwinden, geh zu deiner
– ich meine zu Frau Alexandrine – du verstehst
mich.«
Ohne ein Wort der Entgegnung verbeugte sich Josef und ging.
Es dauerte keine zehn Minuten, da öffnete sich die
Tür wieder und statt des nettgekleideten Dieners mit dem
frischrasierten freundlichen Gesichte, trat ein sonderbar aussehender
Mann ein. Er trug einen schäbigen schwarzen Anzug, der Rock
war hoch zugeknöpft und ließ keinen weißen
Halskragen sehen, dafür aber war die Krawatte wie ein Strick
um den Hals gebunden und der Hut, den der Mann zwischen den
Händen drehte, war so fettig, daß man ihn
hätte auskochen können – mit einem Wort,
Josef Dubois, der vornehme Lakai, hatte sich wieder in Fanferlot, den
Polizeiagenten zurückverwandelt.
Bei seinem Eintritt erschrak Prosper, er erkannte den kleinen
Mann, der bei seiner Verhaftung gegenwärtig gewesen, gar wohl.
»Bravo,« sagte Verduret, »der
Polizist, wie man ihn nicht schöner wünschen kann, du
hast mich richtig verstanden, mein liebes
Eichhörnchen.«
Fanferlot errötete vor Vergnügen
über das Lob seines Meisters.
»Was habe ich jetzt zu tun?«
»Geh' zur Hintertüre hinaus und nimm auf dem
Kai Aufstellung, aber so, daß dich Clameran bemerken
muß.
Er wird natürlich sofort die Polizei wittern und
merken, daß, während er auf der Lauer liegt, ihm
selber aufgepaßt wird. Da wird er Reißaus nehmen und
versuchen, dich auf eine falsche Fährte zu führen. Es
gilt also, die Augen offen halten. Der Kerl ist schlau, laß
ihn dir nicht entwischen.«
»Ei, ich bin doch kein Neuling!«
»Um so besser. Also vorwärts, rasch, es ist
keine Zeit zu verlieren!«
Als Fanferlot sich entfernt hatte, nahmen Verduret und Prosper
wieder ihren Beobachtungsposten am Fenster ein, aber noch ehe der
Polizeiagent unten erschien, klopfte es an der Türe und Nina
Gypsy, jetzt Anna Dupont, trat ein.
Das arme Mädchen war gänzlich verwandelt,
früher lebhaft, fröhlich, heiter bis zur
Ausgelassenheit,
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