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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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war sie jetzt ernst und still, und ihren
schönen Augen konnte man es ansehen, daß sie in
letzter Zeit viel geweint hatten.
    Sie grüßte Prosper scheu, wie einen Fremden,
und wandte sich sogleich an Verduret, der sie mit väterlicher
Freundlichkeit empfing.
    »Nun, mein liebes Kind, was gibt es Neues?«
    »Ich weiß nichts Bestimmtes, ich vermute
nur, daß sich etwas Schreckliches vorbereitet. Frau Fauvel
schleicht wie ein Schatten durchs Haus und sieht ans, als ob sie nicht
mehr zurechnungsfähig wäre, und der Herr ist seit
gestern ganz verwandelt. Sonst die Güte und Freundlichkeit
selbst, ist er jetzt höchst gereizt und sieht aus, als
müßte er sich gewaltsam zusammennehmen, um nicht
loszubrechen. Seine Augen haben einen sonderbaren Ausdruck bekommen,
der geradezu schrecklich wird, wenn sein Blick auf seine Frau
fällt.«
    »Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt,
Prosper,« rief Verduret, »der unglückliche
Mann hat sich beherrscht, hat Beweise gesucht und mag sie schon
gefunden haben.«
    »Ja,« sagte Nina, »jetzt komme ich
darauf, kein Zweifel, Herr Fauvel weiß alles.«
    »Das heißt, er glaubt alles zu wissen, und
das ist allerdings noch schrecklicher als die Wahrheit.«
    »Jetzt verstehe ich erst den Befehl, den Herr Fauvel
seinem Kammerdiener gegeben hat.«
    »Was für einen Befehl?«
    »Herr Cavaillon will gehört haben, wie Herr
Fauvel den Kammerdiener beauftragte, ihm sämtliche Briefe, an
wen sie auch seien, zu überbringen.«
    Verduret schien das Gehörte zu überdenken.
    »Ich danke Ihnen, liebes Kind,« sagte er
nach einer Pause. »Gehen Sie schnell nach Hause und beobachten
Sie jede Geringfügigkeit genau, und wenn etwas
vorfällt, benachrichtigen Sie mich sofort. Adieu.«
    Aber Nina ging nicht sogleich.
    Sie hob schüchtern den Blick und fragte leise:
»Und Caldas?«
    Prosper fiel der Name, den er schon einmal, er wußte
nicht mehr wann und wo, gehört hatte, auf, er wollte eine
Frage stellen, aber Verduret, der bei Nennung des Namens
zusammengezuckt war, antwortete Nina: »Ich habe Ihnen
versprochen, daß Sie ihn wiederfinden sollen, ich werde mein
Wort halten – jetzt gehen Sie.«
    Nachdem sich Nina entfernt hatte, schritt Verduret im Zimmer
nachdenklich auf und ab. Er runzelte die Stirne, und sein Gesicht
drückte schwere Besorgnis aus.
    »Ich habe Sie wohl in eine schreckliche Verlegenheit
gebracht?« fragte Prosper.
    »Jawohl, schrecklich ist das richtige Wort
dafür. Ich weiß nicht mehr was ich tun soll
– es ist Zeit, daß der Untersuchungsrichter ins
Vertrauen gezogen wird. Kommen Sie mit; Herr Pertingent soll sich
über die Bereicherung seines Aktenfaszikels 113 wundern!

22. Kapitel
    Wie es Verduret richtig vorausgesehen hatte, war die Wirkung
von Prospers anonymem Brief eine furchtbare.
    Als Fauvel das Schreiben in die Hand bekam, fiel ihm sofort
die Schrift auf. Sie war offenbar verstellt und eine böse
Ahnung beschlich ihn.
    Mit zitternden Händen faltete er das Blatt
auseinander und blickte zuerst nach der Unterschrift.
    »Ein Freund.« – Was bedeutete das?
    Fauvel las und war wie vom Donner gerührt.
    War es möglich! Seine Frau untreu, seine Frau
Hehlerin eines Diebstahls, dessen ein Unschuldiger angeklagt worden,
seine angebetete Frau, die Geliebte eines so unerhört gemeinen
Menschen!
    »Aber das ist ja nicht möglich!«
sagte er sich, als er die erste lähmende Beklemmung
abgeschüttelt hatte, »das kann ja nicht sein! Es ist
eine Niedertracht, eine ehrlose Feigheit! Pfui!«
    Und wütend ballte er den Brief in der Hand zusammen
und warf ihn in den Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte.
    Er wollte an die Schändlichkeit nicht mehr denken,
und setzte sich zu seiner Arbeit an den Schreibtisch.
    Allein die Gedanken wollten nicht gehorchen, immer wieder
wanderten sie zu dem anonymen Briefe.
    »Ha, wenn ich wüßte, wer der Elende
ist, der es gewagt hat, diese Verleumdungen zu schreiben!«
    Er erhob sich, um den Papierknäuel wieder aus der
Asche zu ziehen, vielleicht gelang es ihn: doch, den Schreiber aus der
Schrift zu erkennen.
    Er glättete das Papier, legte es vor sich auf den
Schreibtisch und studierte die Schriftzüge auf das
eingehendste, aber er fand keinerlei Anhaltspunkte. Nur, als er die
Zeilen nochmals und abermals las, wurde sein Vertrauen wieder
schwankend.
    »Nein,« sagte er sich, »ich kann
diese Qual nicht länger ertragen, ich will Valentine diesen
Brief zeigen.«
    Er stand auf und schritt zur

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