Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
sein Geld verdiente, hatte er sich auf Inlandsberichte über die Unterwelt in der Bundesrepublik und die Arbeit der Polizei spezialisiert. Seiner Mutter gefiel das ganz und gar nicht, und sie warf ihm seinen »Umgang mit schlechten Menschen« vor. Sein Einwand, daß er bald einer der gefragtesten Reporter Westdeutschlands sein werde, vermochte sie nicht von der Meinung abzubringen, die Tätigkeit eines Sensationsreporters sei ihres einzigen Sohnes unwürdig.
Der Rundfunk brachte weitere Meldungen. Peter Miller überlegte fieberhaft, ob sich aus dem sensationellen Ereignis für ihn die Möglichkeit zu einer speziell innerdeutschen Story ergab. Die Berichterstattung über die Redaktion der Bundesregierung war Sache der Bonner Korrespondenten, und die obligaten Rückblicke auf Kennedys Besuch in West-Berlin würden die dortigen Journalisten liefern. Eine brauchbare Bildreportage aber für eine der zahlreichen westdeutschen Illustrierten, die zu den besten Kunden seiner Schreibe gehörten, schien auch nicht drin zu sein.
Der Mann am Wagenfenster merkte, daß Miller mit den Gedanken woanders war. Er setzte ebenfalls eine nachdenkliche Miene auf.
»Ja, ja«, murmelte er wie jemand, der das alles hatte kommen sehen, »gewalttätige Menschen sind das, diese Amis. Denken Sie an meine Worte – gewalttätige Menschen. Die haben alle eine gewalttätige Ader, und das wird unsereinem hier immer unbegreiflich bleiben.«
»Sicher«, sagte Miller abwesend.
Der Mann begriff endlich.
»Tja, dann werde ich mich mal wieder auf die Socken machen«, sagte er.
»Ich muß nach Hause. Guten Abend!« Und er ging zu seinem Wagen zurück.
»Guten Abend«, rief Miller ihm aus dem geöffneten Wagenfenster nach und kurbelte die Scheibe rasch wieder hoch, denn der Wind peitschte vom Fluß her Schneeregen landeinwärts. Immer noch kamen die getragenen Klänge des »marche funebre« aus dem Radio. Der Ansager erklärte, das für diesen Abend ursprünglich vorgesehene Unterhaltungsprogramm sei abgesetzt worden; es werde ausschließlich Musik gesendet, die dem Ernst des Ereignisses angemessen sei, nur unterbrochen von den neuesten Meldungen aus Dallas.
Miller lehnte sich in die bequemen Ledersessel seines Jaguars zurück und steckte sich eine filterlose Roth-Händle an. Seine Vorliebe für diese Zigarette gehörte ebenfalls zu den Dingen, die seine Mutter an ihrem einzigen Sohn auszusetzen fand.
Nur allzu gerne versuchte man sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn … Gewöhnlich sind solche Denkspiele müßig, denn was hätte sein können, wird man nie wissen. Dennoch: Peter Miller hätte seinen Wagen mit Sicherheit nicht an den Straßenrand gesteuert und dort eine halbe Stunde lang geparkt, wenn an jenem Abend sein Radio nicht eingeschaltet gewesen wäre. Weder hätte er den Unfallwagen gesehen noch jemals von Salomon Tauber und Eduard Roschmann etwas gehört, und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte der Staat Israel vierzig Monate später nicht mehr existiert.
Miller rauchte seine Zigarette zu Ende, drehte das Wagenfenster wieder hinunter und warf den Stummel fort. Ein leichter Druck auf den Gashebel ließ den 3,8-l-Motor unter der langgestreckten, flach gewölbten Kühlerhaube des Jaguar XK 150 S einmal aufheulen, dann fiel die Maschine in ihr gewohntes Brummen. Es klang wie das Knurren eines gefesselten Raubtieres. Miller schaltete die beiden Scheinwerfer an, blickte zurück und reihte sich in den dichter werdenden Verkehr auf dem Osdorfer Weg ein.
Die Ampel an der Ecke Stresemann-Daimlerstraße zeigte Rot, als er hinter sich das Signal des Unfallwagens hörte. Mit an- und abschwellendem Sirenengeheul raste der Wagen links an ihm vorbei, bremste leicht ab, bevor er bei Rot auf die. Kreuzung fuhr, und bog unmittelbar vor Miller nach rechts in die Daimlerstraße ein. Miller reagierte reflexhaft. Er legte den Gang ein, der Jaguar schoß mit einem Satz nach vorn, bog kreischend um die Ecke und folgte dem Unfallwagen im Abstand von zwanzig Metern.
Schon im nächsten Augenblick wünschte sich Miller, er wäre geradeaus, auf dem direkten Weg, heimgefahren. Vermutlich kam bei der Verfolgung des Unfallwagens nichts heraus, aber man konnte nie wissen. Wo ein Unfallwagen hinfuhr, da waren immer Menschen in Not, und wo Menschen in Not waren, da gab’s vielleicht Stoff für eine Reportage, besonders, wenn man als erster an Ort und Stelle war und die von den Redaktionen geschickten Kollegen erst eintrafen, wenn schon alles gelaufen war. Es
Weitere Kostenlose Bücher