Die Akte Veden
sitzen.
»Was wohl«, blaffte Lünsmann. »Tüderbüdel! Ein weiterer Zombie!«
Tim starrte sich über den Spiegel in die Augen und konnte sehen, wie er bleich wurde. »Wir kommen«, sagte er. »Lassen Sie den Zombie am Leben, bis wir da sind.«
Lünsmann stieß ein dumpfes Lachen aus. »Beeilen Sie sich!«
Das Besetztzeichen erklang.
Tim raste zurück ins Zimmer, warf Loki das Handy in den Schoß und packte seine Zigaretten in die Hosentasche. Er fing den fragenden Blick seines Cousins auf. »Das war Lünsmann. Wir müssen los. Sofort.«
* * *
Chest wartete vor dem Wohnheim auf ihn. Er lehnte an der Wand, rauchte eine Zigarette und beobachtete die anderen Schüler scheinbar teilnahmslos, wie sie über den Campus liefen.
Es war später Nachmittag. Ein frischer Wind wirbelte Laub auf, ließ die Haare der Mädchen fliegen und zerstreute die vielen Stimmen in leises Murmeln.
Als der Typ endlich herauskam, fixierte Chest ihn und verfolgte, wie er gemächlich, aber zielgerichtet über das Pflaster lief. Als sich ihre Blicke begegneten, wurde der Andere blass. Chest löste sich von der Wand, warf die Zigarette zu Boden und machte ein paar Schritte auf ihn zu.
»Hi«, sagte Letzterer. »Ich hab es noch nicht. In zwei Stunden war abgemacht.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.«
»Brauchst du mehr? Kein Problem, Mann.«
Chest schüttelte kaum merklich den Kopf. »Nein. Ich gehe mit dir.«
Jetzt wurde das Gesicht seines Gegenübers einen Tick blasser. Er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, sichtlich auf der Suche nach den richtigen Worten. »Das geht nicht«, sagte er, darum bemüht, Chest nicht anzusehen. »Du weißt doch, wie das läuft. Ich besorge das Zeug und übergebe es dir.«
»Wir ändern die Regeln jetzt.«
Der Andere – Chest wusste seinen Namen nicht mehr und wollte ihn auch gar nicht wissen – sah sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand zuhören konnte. Dann trat er einen Schritt auf Chest zu und sah ihm in die Augen. Obwohl seine Stimme leicht zitterte, so leicht, dass es manch einer womöglich gar nicht bemerkt hätte, nahm er offenkundig seinen ganzen Mut zusammen, während er jetzt sprach.
»Mann, hör zu. Ich habe nicht so reiche Eltern wie die Meisten hier. Ich bin auf den Verkauf des Harzes angewiesen. Wenn du mir diese Einnahmequelle stiehlst, habe ich keine Chance mehr, an der Schule zu bleiben.«
Es folgten ein paar Momente Schweigen. Der Andere fuhr sich mit der Zunge über die Lippe, sein Blick schweifte immer wieder umher. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde er nervöser.
Chest wartete still ab.
Inzwischen waren sie allein. Eine verirrte Gruppe Schüler verließ gerade den Campus, als der Ältere tief Luft einzog, die Hände in den Jackentaschen vergrub und erneut in Chests Augen blickte.
»Ganz ehrlich, Mann, ich habe keine Lust darauf, dass du mir die Schnauze einschlägst. Nimm mir das nicht übel! Jeder weiß, wozu du imstande bist. Ich will echt keinen Stress mit dir. Aber du verstehst mich doch, oder?«
Chest musste lächeln. »Ich verstehe. Wir sollten jetzt losgehen, ansonsten kommst du zu spät zu deinem Treffen.«
Der Ältere schloss die Augen und rieb sie. »Gibt es keine Möglichkeit, dir das auszureden?«, fragte er gepresst.
»Nein.«
»Dann komm.« Er wandte sich um und marschierte in Richtung Innenstadt.
Chest folgte ihm.
›Er ist gar nicht so feige, wie es auf den ersten Blick gewirkt hat‹, meinte Hora.
›Ach nein? Er zieht es vor, sein Geheimnis preiszugeben, um keine Schläge zu kassieren. Was ist daran nicht feige?‹
Hora lachte. ›Das würde ich einen gesunden Menschenverstand nennen. Er weiß, dass du es ansonsten aus ihm herausgeprügelt hättest. Jetzt sag nicht, du bist nicht erstaunt darüber, wie er mit dir geredet hat! Alle anderen wären schlotternd in die Knie gegangen.‹
»Ich werde dir dein Geschäft nicht ruinieren«, sagte Chest. Er registrierte, dass ihn der Ältere suchend von der Seite anblickte, erwiderte den Blick aber nicht. »Ich habe nicht vor, zu dealen.«
›Noch nicht‹, kicherte Hora.
»Warum willst du dann unbedingt mitkommen?«, fragte der Andere.
»Weil ich gerne darüber Bescheid weiß, was um mich herum abläuft.«
Hora lachte.
»Gut. Aber wundere dich nicht.«
Erneut herrschte Schweigen. Sie liefen nebeneinander durch das Schultor, stiegen in den Bus und fuhren in die Innenstadt. Über ihnen färbte sich der Himmel allmählich dunkler, und zehn Minuten später sprangen die
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