Die Akte Veden
Straßenlampen surrend an. Ihnen begegneten einige Jugendliche auf ihrem Weg in Kneipen und Diskotheken, alle fröhlich vor sich hinlachend, auf der Suche nach dem nächsten Rausch, um zu vergessen, wer sie waren, was sie taten und dass es keinen Grund für all das gab.
›Sinnlosigkeit‹, sagte Hora, jetzt mit ernster Mentoren-Stimme. ›Schau sie dir genau an, Chest. Die Sinnlosigkeit treibt sie an. Es gibt keine Sekunde, in welchen sie ernsthaft über den Sinn des Lebens nachgedacht haben. Diese Tatsache machen sie sich nicht bewusst. Sie haben Angst davor, über den Sinn nachzudenken, Angst davor, herausfinden zu müssen, dass es keinen Sinn gibt. Diese Geisteshaltung macht sie zu Marionetten ihrer eigenen Bewusstlosigkeit. Zombies.‹
Chest antwortete nicht. Er warf den Vorbeilaufenden kaum einen Blick zu und erfasste doch mehr als alle anderen. Hora trainierte ihn darin, die Dinge, die sich um ihn herum befanden, automatisch abzuspeichern, um sie bei Bedarf abrufen zu können.
›Sie laufen durch die Gegend, besaufen sich, berauschen sich mit allen möglichen Mitteln, gieren nach Füllmaterial für die Leere in sich. Diese Leere ist aber nicht vorhanden. Diese Leere würde sich auflösen, wenn sie sich mit sich selbst beschäftigen würden. Selbstreflektion. Wahrnehmung und Erkenntnis.‹
Chest nickte kaum merklich, eine Bewegung, die ebenso gut im Zuge seiner Schritte durch die Stadt hätte ausgelöst werden können.
Er speicherte eine Gruppe Jugendlicher ab, die auf der anderen Straßenseite an einer Bushaltestelle standen. Sie waren zu viert, drei Jungs und ein Mädchen, vielleicht zwischen sechszehn und zwanzig. Das Mädchen war extrem dünn, bis in die kleinste Haarspitze zurecht gemacht. Ihre ganze Körperhaltung zeigte, dass sie nach Zuspruch gierte.
›Wie bekommt das Mädchen die Bestätigung der anderen?‹, fragte Hora.
Chest musste nicht lange überlegen. ›Sie wird etwas in diese Richtung sagen: ›Meine Haare sehen heute furchtbar aus‹. Damit muss sie sich nicht selbst eingestehen, dass sie an sich zweifelt, und sie gesteht es den anderen auch nicht ein. Irgendjemand wird antworten: ›Nein, gar nicht‹, und das reicht ihr. Im günstigsten Fall löst sie sogar eine Diskussion über ihre Haare aus. Und sie wählt die Haare als Gesprächsthema, weil sie hier am wenigstens angreifbar ist. Sie weiß, dass sie schöne Haare besitzt, schöner als andere Mädchen, und dass sie Zustimmung ernten wird.‹
Hora blieb stumm.
Fünf Minuten später erreichten sie den Zugang zu einem kleinen finsteren Hinterhof. Chest folgte seinem Mitschüler. Irgendwo in seinem Hinterkopf legte er eine genaue, detaillierte Skizze seiner Umgebung an. Die wichtigsten Fakten rollten in Form von Gedanken wie schwerfällig in Bewegung gebrachte Felsbrocken in seinem Bewusstsein hin und her: nur ein Ausgang, eine Tür zu den Wohnungen, eine weitere, wahrscheinlich in die Kellerräume oder in eine Garage. Dunkle Ecken, kaum einsehbar von außerhalb des Hinterhofes, allerdings leere Ecken – bis auf eine.
Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich wie ein gezielter Laserstrahl auf diese Person, die dort im Dunkeln stand. Chest spürte ein merkwürdiges Ziehen, eine leise Warnung irgendwo in seinem Inneren, und doch war es keine Warnung vor Gefahr. Es glich vielmehr dem Gefühl, dass jeden Moment etwas Unvorhersehbares geschehen könnte. Unvorhergesehene Dinge passten nicht in seine Welt; er wollte schon vorher wissen, was passieren würde.
Bevor er jedoch reagieren konnte, bemerkte er, dass die Person unerwartet klein und zierlich wirkte. Und in der nächsten Sekunde hatten sich seine Augen vollständig an die Dunkelheit gewöhnt, er konnte das Gesicht erkennen.
Zum ersten Mal in seinem Leben machten seine Beine nicht mehr das, was er von ihnen verlangte. Chest blieb einfach stehen, ohne es beabsichtigt zu haben.
Grelles Licht blendete ihn. Er riss die Arme nach oben, in seinem Kopf brüllte seine eigene Stimme: So war das nicht! Nein, so war das nicht! Das grelle Licht verschwand wieder. Er lag ausgestreckt auf dem dreckigen Boden des Hinterhofes.
Chest hatte keine Orientierung mehr.
Das Licht kehrte zurück, schien seine Pupillen zu versengen. Er konnte aber weder die Arme hochreißen noch zusammenhängend denken. Seine eigene Stimme brüllte ihn weiterhin an, schrie und vermischte sich mit einer fremden Stimme. Jemand schien ihn zu schütteln, und doch konnte er durch das Licht und die Dunkelheit, einer
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