Die Akte Veden

über seiner Pizza saß. »Glauben Sie wirklich, irgendjemand hat durch Imagination diese Menschen gekidnappt? Ich meine, wenn das so ist, dann haben wir ja einen Verbrecher an der Schule, oder nicht?«
    Tim betrachtete kauend das Profil seines Cousins, während sich dieser im Stuhl zurücklehnte und die Arme verschränkte. Er kannte Loki inzwischen so gut, dass er die zumeist gleichgültige Miene und die damit einhergehende Gestik einigermaßen lesen konnte. Während Chester bestimmt glaubte, Lokis verschränkte Arme deuteten auf Abwehr hin, war die Gebärde aber in Wirklichkeit vollkommen belanglos. Wenn es einen ungefähren Einblick in das gab, was Loki wohl gerade dachte, dann war es der Blick aus den grauen Augen. Und Tim sah genug, um zu wissen, dass er die Unterhaltung interessant fand.
    »Ich habe mir erhofft, diese Frage von dir beantwortet zu bekommen«, sagte Loki. »Du bist Schulbester. Kannst du anhand deines Wissensstandes irgendeine Möglichkeit sehen, mittels der Imagination Menschen verschwinden zu lassen? Ist so etwas möglich?«
    Chester zog an der Zigarette und wandte den Blick ab. »Ich hab schon drüber nachgedacht. Theoretisch – rein theoretisch – sollte es gehen. Aber ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand eine solche Macht hat.« Er zuckte die Schultern.
    »Erzähl mir von dieser theoretischen Möglichkeit.«
    Der Schülersprecher grinste hämisch. »Da wären wir bei der Lehre der Imagination. Es interessiert Sie also doch?«
    Loki legte den Kopf schief. »Keine Haarspalterei.«
    »Schon gut.« Chester blies Rauch aus. »Eigentlich kann man es ganz einfach zusammenfassen: Die Lehre über die Imagination besteht darin, dass man durch die Einbildungskraft, also durch die subjektive Wahrnehmung innerhalb eines fiktiven Wirkungskreises eine allgemein gültige Realität erschafft.« Er musterte Loki, suchte wahrscheinlich nach einem Anhaltspunkt darüber, ob er verstanden hatte. »Ich erschaffe mir in Gedanken zum Beispiel einen Raum, und dieser Raum sollte, laut der Lehre, allen Menschen zugänglich sein. Aus dem individuellen wird ein kollektiv zugänglicher Raum.« Er stand auf, griff nach dem Blumentopf-Aschenbecher auf dem Tisch und nahm ihn mit zum Bett, setzte sich wieder. Erneut sah er Loki suchend an.
    Tim sah das Mundwinkel-Grinsen auf den Lippen seines Cousins. Er drehte sich im Sitzen um und schenkte dieses Lächeln Tim. »Siehst du, deshalb habe ich den Fall angenommen, Johnny.« Er wandte sich zu Chester um. »Das ist höchst interessant, findet ihr nicht? Bedenkt man die philosophischen Ansätze innerhalb dieser Thematik, eröffnen sich allerlei Fragen. Ich will fast behaupten, dass es nicht allein eine philosophische Angelegenheit ist. Sie ist sehr viel größer. Gebietübergreifend. Aber das alles kann man im Internet nachlesen, wenn man möchte.« Die grauen Augen richteten sich auf Chester. »Du wolltest mir erzählen, warum du das Verschwinden von Menschen theoretisch für möglich hältst.«
    »Ja.« Chester wirkte nervös. Seine Hände spielten mit dem Hemdsaum. »Einmal angenommen, ein Outsider beherrscht die Imagination auf diese Weise, die Veden, der Gründer, für möglich gehalten hat, dann sollte er es schaffen können, diese subjektive, fiktive Welt für andere zugänglich zu machen. Wenn dann also eine solche Welt entstanden ist, innerhalb des Kopfes dieses Outsiders, könnte er Menschen darin einschließen.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Theoretisch könnte er sie also kidnappen, indem er sie in eine Parallelwelt bringt.«
    »Die vedische Lehre glaubt an solche Parallelwelten, nicht?« Loki hatte sich eine Zigarette angezündet, und während er rauchte und Chester zuhörte, saß er zurückgelehnt im Stuhl und sah an die Decke hinauf.
    Chester nickte. »Inzwischen spricht man ja auch in der Quantenphysik von solchen Welten. Andere nennen sie Dimensionen.« Er zuckte die Schultern. »Wie auch immer man sie nennen will, bei uns heißen sie nach wie vor Parallelwelten.«
    Einen Moment folgte Schweigen. Tim schob die Pizza von sich, von der kaum etwas übrig war, und musterte wieder seinen Cousin von der Seite. Loki sah zufrieden aus, und Tim erkannte in diesem Augenblick, dass er genau davon die ganze Zeit ausgegangen war. Loki rechnete, seit sie den Auftrag angenommen hatten damit, dass hier ein irrer Outsider am Werk war, der die Leute in eine andere Dimension entführte. Tim konnte nicht anders, er musste wegen diesem