Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
in der Nacht im Zimmer gewesen und hatte sie durch das Laken berührt. Es fiel ihr noch immer schwer, sich das einzugestehen.
Die Tür war verschlossen, die Fenster verriegelt. In einem ersten, eisigen Moment hatte sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sich der Eindringling noch immer in der Suite aufhielt. Sie hatte die Räume und das Bad durchsucht, weit gründlicher, als nötig gewesen wäre. Doch da war niemand. Kein Mann. Keine Spuren.
Jemand wollte ihr zeigen, wie nahe er ihr kommen konnte. Er wollte ihr beweisen, wie verletzlich sie war. Wie ungeschützt. Und wie allein. Als hätte es dafür irgendwelcher Zeichen bedurft.
Sie hatte lange nicht mehr an Gillian gedacht – du lügst, du denkst ständig an ihn –, und sie hatte sich vorgemacht, niemand könne unabhängiger sein als sie selbst. Aber sie war nicht unabhängig. Gewiss, sie besaß mehr Geld, als sie ausgeben konnte, und sie bewegte sich vollkommen frei von Stadt zu Stadt und über alle Grenzen hinweg. Andererseits wusste sie, was um sie herum geschah. Ihr Sohn hasste sie, ihre Schwester beneidete sie, und ihre Mutter – nun, Charlotte hatte in ihren wachen Momenten kaum mehr als Verachtung für ihre älteste Tochter übrig. Die einzige, die zu Aura hielt, war ihre Nichte Tess, und sie war gerade einmal fünfzehn, ein Jahr jünger als Auras Sohn Gian.
Zehn Jahre waren seit der Rückkehr aus Swanetien vergangen. Zehn Jahre, seit sie und Gillian sich geschworen hatten, für immer zusammenzubleiben.
Und dann, zwei Jahre später, war es aus gewesen.
Das Schlimmste war, dass Aura selbst die Schuld daran trug.
Sie betrachtete erneut den Handabdruck, zum hundertsten Mal innerhalb weniger Minuten. Das Blut war längst getrocknet. Das weiße Leinen hatte es aufgesogen. An den Rändern verschwamm der Umriss zu winzigen Verästelungen, ein haarfeines Netzwerk wie dunkelrote Eiskristalle.
Es hatte keinen Zweck, die Hotelleitung zu informieren. Der Direktor würde darauf bestehen, die Polizei zu rufen, und das war das letzte, was sie wollte. Nicht in Zeiten wie diesen, die es nötig machten, dass sie unter einem französischen Decknamen reiste, damit niemand ihre wahre Herkunft erkannte.
Sie betastete den Abdruck mit einem Zeigefinger, um sicherzugehen, dass das Blut kein Produkt ihrer Einbildungskraft war. Es fühlte sich hart und borkig an, wie Baumrinde.
Aura riss sich von dem Anblick los, trat ans Fenster und schaute hinaus auf die Uferstraße. Sie hatte halb erwartet, dass dort unten jemand stehen würde, der sie beobachtete. Doch auf der Straße waren nur ein paar Automobile und Pferdegespanne unterwegs, dazwischen Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit.
Rasch trat sie zurück, nahm einen der hässlichen Stühle und verkantete die Lehne unter der Klinke der Zimmertür. Danach fühlte sie sich ein wenig sicherer, auch wenn sie genau wusste, dass sie sich etwas vormachte. Wem es gelungen war, an den Schlüssel zu kom-men, der würde auch in der Lage sein, die Tür einzutreten.
Doch sie glaubte nicht, dass er etwas Derartiges tun würde. Seine Gefährlichkeit war subtiler, ein Spiel mit Auras Ängsten, keine Androhung plumper Gewalt. Das würde später kommen. Das Blut war eine erste Warnung. Schwer zu sagen, ob es von einem Menschen oder einem Tier stammte; höchstwahrscheinlich war es Hühner- oder Schweineblut. Aber auch dieser Gedanke konnte sie nicht beruhigen.
Sie wünschte sich einen starken Kaffee, irgendetwas, das ihre Sinne schärfte und verhinderte, dass sie sich in tausend Mutmaßungen verzettelte. Etwas, das sie zurück auf den Boden der Tatsachen holte.
Die blutige Hand war eine Tatsache. Der sechste Finger eine andere. Dazu kam die verschlossene Tür. Alles andere blieb Spekulation.
Und nun werd gefälligst damit fertig. Tu etwas.
Traumwandlerisch entschied sie, ein Bad zu nehmen. Sie fühlte sich beschmutzt und ekelte sich vor sich selbst, obwohl sie nur geschlafen hatte. Wie lange war der Fremde im Zimmer gewesen? Hat-te er sie nur dort berührt, wo das Blut Spuren hinterlassen hatte? Wie lange hatte er dagestanden und sie stumm im Mondlicht betrachtet?
Zur Sicherheit legte sie ihren kleinen Revolver mit gespanntem Hahn neben die Badewanne. Die Waffe war kaum größer als ihre Handfläche. Aber auch ein Hüne mit sechs Fingern war nicht immun gegen die Kraft einer Kugel.
Die Versorgung mit heißem Wasser funktionierte im Hotel recht gut, obwohl sie erst am Abend zuvor ein Bad genommen hatte. Sie benutzte keine Öle oder
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