Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Seifen, entspannte sich und betrachtete ihren nackten Körper durch die spiegelnde Oberfläche. Das Wasser vergrößerte ihren Umriss wie eine Lupe. Selbst nach siebzehn Jahren konnte sie noch immer die beiden Reihen winziger Narben an den Innenseiten ihrer Oberschenkel erkennen, dort, wo sie als Mädchen Ringe durch die Haut gezogen hatte, einen für jeden Monat, den ihr Vater sie in einem Internat in den Schweizer Bergen einsperren wollte. Auf dem Weg dorthin war sie Gillian begegnet.
Es gab Wichtigeres, über das sie hätte nachdenken müssen – wer wusste, dass sie sich in Paris aufhielt und hatte darüber hinaus einen Grund, sie einzuschüchtern? –, und doch war es immer wieder Gillian, zu dem ihre Gedanken zurückkehrten. Sie hatte ihm die Unsterblichkeit angeboten. Er hatte abgelehnt. Zwei Jahre lang, Tag für Tag. All ihre verzweifelten Argumente, schließlich ihr Flehen – nichts hatte gefruchtet. Er wollte nicht ewig leben, auch nicht aus Liebe zu ihr. Und sie konnte ihn verstehen. Ihr Körper war der einer Vierundzwanzigjährigen und würde es für immer bleiben. In Wahrheit war sie zehn Jahre älter. Noch mit sechzig würde sie aussehen wie eine junge Frau. Auch mit zweihundert. Sie wusste genau, was Gillian gemeint hatte, als er ihr Angebot ausschlug. Die Aussicht auf die Einsamkeit, das Leid, den Schmerz, den Verlust all jener, die sie liebte. Sie und Gillian hätten Seite an Seite leben können, Jahrhundert um Jahrhundert. Aber was hätte die Zeit ihnen angetan? Sie stellte sich diese Frage immer wieder, seit dem Moment, in dem das Gilgamesch-Kraut sie zu einer Unsterblichen gemacht hatte. Sie hatte Liebespaare gesehen, die sich nach wenigen Jahren nichts mehr zu sagen hatten. Wie konnte sie annehmen, dass Gillians Liebe zu ihr eine Ewigkeit dauern würde? Und ihre eigene zu ihm?
Sie war so verflucht jung gewesen. So unerfahren. Sie hatte geglaubt, er würde ihr verzeihen, als sie ihm das Kraut schließlich unter sein Essen mischte. Es zeigte seine Wirkung, als er in ein zweitägiges Koma fiel. Als er wieder erwachte, wusste er sogleich, was sie getan hatte. Am Tag darauf hatte er sie verlassen, hatte Schloss Institoris und der Ostsee den Rücken gekehrt und war nach Süden gegangen. Fort von ihr. Fort auch von Gian, seinem Sohn.
Aura schlug mit der Faust auf die Wasseroberfläche. Eine Fontäne spritzte über den Griff des Revolvers. Eine Waffe, mit der sie um ihr Leben kämpfen würde… die Vorstellung ließ sie schmunzeln. Aura war unsterblich, gewiss, aber alles, wovor das Kraut sie bewahrte, waren das Alter und vielleicht die eine oder andere Krankheit – und nicht einmal dessen konnte sie sicher sein. Lediglich eines wusste sie genau: Wie jeder andere Mensch konnte sie eines gewaltsamen To-des sterben. So wie ihr Vater, der nach sechs Jahrhunderten gestor-ben war, als jemand seinen Kehlkopf zerquetschte.
Jemand? Mach dir nichts vor! Gillian war’s! Gillian hat ihn getötet, damals, bevor ihr euch kanntet. Gillian. Immer wieder er. Sie tauchte unter, bis ihre langen Haare wie Wasserpflanzen auf der Oberfläche trieben, hielt den Atem an, als könnte das drohende Ersticken den Schmerz aus ihrer Seele vertreiben. Trotzdem hatte sie nicht das Bedürfnis, nach Luft zu schnappen, als sie auftauchte und abermals zum Beckenrand blickte.
Die Waffe war fort.
Aura sprang auf, Tropfen wirbelten funkelnd in alle Richtungen. Jetzt erst raste ihr Atem, ihr Herzschlag, und ein Wasserschleier verwischte ihre Sicht.
Der Revolver lag auf dem Boden. Die Nässe hatte ihn vom Wannenrand gleiten lassen. Aura konnte von Glück sagen, dass sich kein Schuss gelöst hatte.
Über eine Minute lang stand sie da, reglos und aufrecht, bis zu den Knien im Wasser, nackt und ungeschützt, eine schimmernde Statue im Kristallspiegel an der Marmorwand gegenüber. Sie war niemals schreckhaft gewesen, nicht einmal als Kind. Jetzt aber kam es ihr vor, als füllte ihr pulsierendes Herz sie von den Füßen bis zur Stirn aus, jeden Zentimeter ihres Inneren, pochend, vibrierend, zitternd.
Sie musste raus hier, hinaus an die frische Luft, fort aus diesem Zimmer, das keine Sicherheit mehr bot. Der Eindringling hatte seine Präsenz wie Fußabdrücke auf dem Teppich hinterlassen.
Wenig später trat sie in einem eng geschnürten schwarzen Kleid auf den Hotelflur. Sie war ungeschminkt und trug keinen Schmuck. Ihr Haar war noch immer feucht. Sie hätte lieber eine Hose getragen wie bei ihren nächtlichen Erkundungen, doch das
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