Die Ameisen
Ostens zum Beispiel werde seit jeher als tödlich angesehen, dabei sei das nur Wasser, sie selbst sei hineingefallen und keineswegs daran gestorben. Vielleicht könne man diesen Fluß eines Tages auf Blätterflößen hinabfahren und so den nördlichen Rand der Welt entdecken … Chli-pu-ni gerät ins Schwärmen: Sicher gebe es auch am nördlichen Ende Wächter, und vielleicht könnte man sie dazu anstacheln, gegen die des östlichen Endes zu kämpfen.
Nr. 103 683 merkt, daß Chli-pu-ni vor kühnen Projekten strotzt. Nicht alle scheinen realisierbar, aber was bereits in die Tat umgesetzt wurde, ist beeindruckend: Noch nie hat die Soldatin so weite Pilzkulturen oder Stallungen gesehen, noch nie hat sie Flöße gesehen, die auf unterirdischen Kanälen treiben …
Aber am meisten überrascht sie das letzte Pheromon der Königin.
Wenn ihre Abgesandten binnen vierzehn Tagen nicht zurück seien, beteuert sie, werde sie Bel-o-kan den Krieg erklären. Sie glaubt, daß ihre Geburtsstadt dieser Welt nicht mehr angepaßt ist. Die bloße Existenz der Kriegerinnen mit dem Felsenduft zeigt, daß Bel-o-kan eine Stadt ist, die sich der Wirklichkeit nicht mehr offen stellt. Eine fröstelnde Stadt, wie eine Schnecke. Einst war sie revolutionär, jetzt ist sie überholt. Sie muß abgelöst werden. Chli-pu-ni ist der Ansicht, daß sich die Föderation rasch entwickeln wird, wenn sie sich an die Spitze setzt. Gemeinsam mit den anderen vierundsechzig Städten müßten ihre Initiativen beträchtliche Ergebnisse zeitigen. Sie gedenkt bereits, die Wasserläufe zu erobern und eine fliegende Legion aufzustellen, die sich der Nashornkäfer bedient.
Nr. 103 683 zögert. Sie hatte vor. Bel-o-kan aufzusuchen und dort über ihre Odyssee zu berichten, aber Chli-pu-ni bittet sie, auf ihr Vorhaben zu verzichten.
Bel-o-kan hat eine Armee aufgestellt, »um nichts zu
erfahren«. Zwinge die Stadt nicht dazu, etwas zu erkennen, was sie nicht erkennen will.
Das obere Ende der Wendeltreppe ist durch einige Stufen aus Aluminium verlängert. Die stammen bestimmt nicht aus der Renaissance! Die drei gelangen zu einer weißen Tür. Wieder eine Inschrift:
Und ich kam zu einer Mauer, die aus Kristallen bestand und von Feuerzungen umgeben war. Und das machte mir langsam angst.
Dann schritt ich durch die Feuerzungen bis zu einem großen Haus, das aus Kristallen errichtet war.
Und die Mauern des Hauses waren wie eine Flut von
schachbrettartigen Kristallen, und seine Fundamente waren aus Kristall.
Seine Decke war wie die Bahn der Sterne.
Und zwischen ihnen waren Feuersymbole.
Und der Himmel war klar wie Wasser. (Enoch, I)
Sie stoßen die Tür auf, steigen einen sehr steilen Gang hinauf.
Plötzlich gibt der Boden unter ihren Füßen nach – eine Falltür!
Ihr Fall ist lang, so lang … daß sie die Angst verlieren, sie haben das Gefühl zu fliegen. Sie fliegen!
Ihr Sturz wird von einem Trapezkünstlernetz aufgefangen, ein riesiges Netz mit engen Maschen. Auf allen vieren tasten sie durch die Dunkelheit. Jason Bragel ortet eine weitere Tür –diesmal jedoch nicht mit einem Kode, sondern mit einer schlichten Klinke. Leise ruft er seine Begleiter. Dann öffnet er.
GREIS: In Afrika betrauert man eher den Tod eines alten Mannes als den eines Neugeborenen. Der Greis bedeutete eine Menge von Erfahrungen, von denen der Rest des Stammes profitieren konnte, während das Neugeborene, das nicht gelebt hat, sich seines Todes nicht einmal bewußt ist.
In Europa trauert man um das Neugeborene, weil man sich sagt, daß es bestimmt wunderbare Dinge hätte vollbringen können, wenn es gelebt hätte. Dem Tod eines Greises hingegen schenkt man wenig Aufmerksamkeit. Er hat auf jeden Fall sein Leben gelebt.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Der Ort ist in ein bläuliches Licht getaucht.
Eine Kirche, eine Art Tempel ohne ein einziges Bild, ohne eine einzige Statue. Augusta muß an die Worte von Professor Leduc denken. Bestimmt haben sich die Protestanten früher hierher zurückgezogen, wenn die Verfolgungen zu gnadenlos wurden.
Der Saal unter dem steinernen Gewölbe ist quadratisch, geräumig, wunderschön. In der Mitte steht als einziges dekoratives Element eine alte Orgel. Davor ein Notenpult, auf dem ein dicker Aktendeckel liegt.
Die Wände sind voller Inschriften, von denen viele, selbst für den Blick eines Laien, eher der Schwarzen als der Weißen Magie nahezustehen scheinen. Leduc hatte recht, die Sekten müssen
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