Die Ameisen
in diesem unterirdischen Schlupfwinkel einander abgelöst haben. Und früher dürfte es hier keine verschiebbare Wand, keinen Trichter und keine Falltür mit Netz gegeben haben.
Sie hören ein Plätschern wie von fließendem Wasser. Die Ursache sehen sie nicht sofort. Das bläuliche Licht kommt von rechts. Dort befindet sich eine Art Laboratorium mit Computern und Reagenzgläsern. Sämtliche Geräte sind eingeschaltet, und die Bildschirme der Computer erzeugen diesen bläulichen Schimmer, der den Tempel erhellt.
»Das macht euch stutzig, was?«
Sie schauen sich an. Keiner von ihnen hat ein Wort gesagt.
Oben an der Decke leuchtet eine Lampe auf.
Sie drehen sich um. Jonathan Wells kommt in einem weißen Bademantel auf sie zu. Er ist durch eine Tür hinter dem Laboratorium in den Tempel eingetreten.
»Guten Tag. Großmutter Augusta! Guten Tag, Jason Bragel!
Guten Tag. Daniel Rosenfeld!«
Keiner Antwort fähig, sperren die drei Augen und Ohren auf.
Er ist also nicht tot! Er hat hier unten gelebt! Wie kann man hier leben? Sie wissen nicht, was sie zuerst fragen sollen …
»Willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft!«
»Wo sind wir?«
»Ihr seid hier in einer zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Androuet Du Cerceau gebauten protestantischen Kirche.
Androuet ist durch den Bau des Hotel Sully in der Rue Saint-Antoine in Paris berühmt geworden, aber ich finde, diese unterirdische Kirche ist sein Meisterwerk. Kilometerlange, in den Stein gehauene Tunnel. Ihr habt bemerkt, auf der ganzen Strecke ist genügend Luft zum Atmen. Er muß Luftschächte angebracht haben, oder er hat es verstanden, die Luftansammlungen in den natürlichen Stollen zu nutzen. Wir sind nicht einmal in der Lage, zu verstehen, wie er das angestellt hat. Sicher sind euch auch die Bäche aufgefallen, die einige Abschnitte des Tunnels durchlaufen. Seht mal, einer davon kommt genau hier heraus.«
Er deutet auf die Ursache des unentwegten Plätscherns, einen mit Skulpturen verzierten Springbrunnen hinter der Orgel.
»Im Laufe der Zeit haben sich viele Leute hierher zurückgezogen, um den Frieden und die Ausgeglichenheit für so manche Dinge zu finden, die … sagen wir: viel Aufmerksamkeit erforderten. Onkel Edmond hat in einem alten obskuren Schriftstück von der Existenz dieses Schlupfwinkels erfahren, und genau hier hat er gearbeitet.«
Jonathan tritt noch näher; eine seltene Sanftmut und Unbekümmertheit gehen von ihm aus. Augusta ist völlig baff.
»Aber ihr seid sicher erschöpft. Folgt mir.« Er stößt die Tür auf, durch die er erschienen ist, und führt sie in einen Raum, in dem mehrere Liegesofas kreisförmig angeordnet sind.
»Lucie«, ruft er, »wir haben Besuch!«
»Lucie? Ist sie auch hier?« ruft Augusta erfreut aus.
»Hmm, wie viele seid ihr denn hier?« fragt Daniel.
»Bislang waren wir achtzehn: Lucie, Nicolas, die acht Feuerwehrleute, der Inspektor, die fünf Gendarmen, der Kommissar und ich. Kurzum, sämtliche Leute, die sich die Mühe gemacht haben, hinabzusteigen. Ihr werdet sie bald sehen. Entschuldigt, aber für unsere Gemeinschaft ist es jetzt vier Uhr morgens, und da schlafen alle. Ich bin der einzige, der von eurer Ankunft geweckt wurde. Was habt ihr nur für einen Radau in den Gängen veranstaltet, sagt mal …«
Lucie erscheint, ebenfalls in einen Bademantel gehüllt.
»Guten Tag!«
Sie tritt lächelnd näher und küßt sie alle drei. Hinter ihr schieben Gestalten im Pyjama den Kopf durch die Öffnung einer Tür, um die »Neuankömmlinge« zu betrachten.
Jonathan holt Gläser und eine große Karaffe, die er mit dem Wasser aus dem Brunnen füllt.
»Wir lassen euch einen Moment allein, um uns anzuziehen und alles vorzubereiten. Wir empfangen nämlich alle Neuen mit einer kleinen Feier, aber daß ihr mitten in der Nacht auftauchen würdet, wußten wir nicht … Bis gleich!«
Augusta, Jason und Daniel rühren sich nicht. Das Ganze ist einfach unglaublich. Daniel kneift sich plötzlich in den Unterarm. Augusta und Jason finden diese Idee ausgezeichnet und machen es ihm nach. Aber nein, die Wirklichkeit übertrifft den Traum manchmal um Längen. Köstlich verwirrt, schauen sie sich an und beginnen zu lächeln.
Einige Minuten später sind alle versammelt. Sie sitzen auf den Sofas. Augusta, Jason und Daniel haben inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen und sind jetzt vor allem neugierig. »Ihr habt vorhin von Luftschächten gesprochen. Sind wir hier tief unter der Erde?«
»Nein, höchstens drei, vier
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