Die Ameisen
327 und Nr. 56.
ÄSTHETIK: Was gibt es Schöneres als eine Ameise? Ihre Linien sind geschwungen und edel, ihre Aerodynamik vollkommen. Die gesamte Karosserie des Insekts ist so angelegt, daß jedes Glied perfekt in die dazu vorgesehene Raste paßt. Jedes Gelenk ist ein mechanisches Wunder. Die Platten fügen sich ineinander, als wären sie von einem computergestützten Designer entworfen worden. Da knirscht nichts, da reibt sich nichts. Der dreieckige Kopf zerschneidet die Luft, die langen, elastischen Beine verleihen dem Körper eine bequeme Spannung unmittelbar über dem Boden. Ein italienischer Sportwagen, könnte man sagen.
Die Krallen ermöglichen es ihr, an der Decke zu gehen. Die Augen haben ein Gesichtsfeld von hundertachtzig Grad. Die Antennen erfassen Tausende von Informationen, die für uns unsichtbar sind, und ihre Enden können als Hammer verwendet werden. Der Hinterleib ist voller Taschen, Säcke, Fächer, in denen das Insekt chemische Produkte speichern kann.
Die Mandibeln schneiden, kneifen, packen. Ein großartiges inneres Röhrensystem erlaubt es, Duftnachrichten zu hinterlassen.
Edmond Wells Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens
Nicolas wollte nicht schlafen. Er saß immer noch vor dem Fernseher. Die Nachrichten hatten mit der Mitteilung geendet, daß die Sonde Marco Polo auf dem Rückweg sei. Schlußfolgerung: Es gab nicht das geringste Anzeichen von Leben in den benachbarten Sonnensystemen. Sämtliche Planeten, die die Sonde aufgesucht hatte, boten nur das immergleiche Bild von felsigen Wüsten oder flüssiger, ammoniak-haltiger Oberflächen. Nicht die kleinste Moospflanze, nicht die geringste Amöbe, nicht die geringste Mikrobe.
»Und wenn Papa recht hat?« sagte sich Nicolas. »Wenn wir wirklich die einzige Form intelligenten Lebens im ganzen Weltall wären?«
Sicher, das war enttäuschend, aber es drohte zu stimmen.
Nach den Nachrichten lief im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt« ein großer Bericht, der sich mit dem Problem der Kasten in Indien befaßte.
»Die Hindus gehören ihr Leben lang der Kaste an, in der sie geboren sind. Jede Kaste hat ihre eigenen Regeln, einen strengen Kode. Regeln, die niemand übertreten darf, ohne von seiner ursprünglichen sowie allen anderen Kasten geächtet zu werden. Um ein solches Verhalten zu verstehen, müssen wir uns erinnern, was …«
»Es ist ein Uhr nachts«, schaltete sich Lucie ein.
Nicolas war mit Bildern übersättigt. Seit dem Problem mit dem Keller hockte er gut vier Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Das war sein Weg, nicht mehr zu denken und nicht mehr er selbst zu sein. Die Stimme seiner Mutter rief ihn in die schmerzliche Wirklichkeit zurück.
»Na, bist du noch nicht müde?«
»Wo ist Papa?«
»Er ist noch im Keller. Du mußt jetzt schlafen.«
»Ich kann nicht schlafen.«
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
»Au ja, eine Geschichte! Eine schöne Geschichte!«
Lucie brachte ihn in sein Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante und löste ihre langen roten Haare. Sie wählte ein altes hebräisches Märchen. »Es war einmal ein Steinhauer, der war es leid, sich den ganzen Tag damit abzurackern, unter einer heißen Sonne Löcher in den Berg zu hauen. ›Ich hab dieses Leben satt. Steine hauen, immer nur Steine hauen, das ist eine Schinderei … Und diese Sonne, immer diese Sonne! Ah, wie gern wäre ich an ihrer Stelle, ich wäre da oben, allmächtig, ganz heiß und könnte die ganze Welt mit meinen Strahlen überfluten‹, sagte sich der Steinhauer. Nun, durch ein Wunder wurde sein Rufen gehört. Und sogleich verwandelte sich der Steinhauer in die Sonne. Er war glücklich, daß sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber wie er genüßlich seine Strahlen überall niedergehen lassen wollte, merkte er, daß sie von den Wolken aufgehalten wurden. ›Was habe ich davon, Sonne zu sein, wenn ein paar einfache Wolken meine Strahlen bremsen können!‹ rief er aus. ›Wenn die Wolken stärker sind, bin ich doch lieber eine Wolke statt der Sonne.‹ Und er wird zur Wolke. Er fliegt über die Welt, zieht dahin, läßt es regnen, aber plötzlich kommt Wind auf und verweht die Wolke. ›Ah, der Wind schafft es, die Wolken zu verwehen, also ist er stärker.
Ich will der Wind sein‹, beschließt er.«
»Und? Wird er der Wind?«
»Ja, und er bläst überall auf der Welt. Er macht Stürme, Böen, Taifune. Aber plötzlich merkt er, daß da eine Mauer ist, die ihm den Weg versperrt. Eine sehr hohe und sehr
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