Die Ameisen
harte Mauer. Ein Berg. ›Was habe ich davon, der Wind zu sein, wenn mich ein einfacher Berg aufhalten kann? Er ist der Stärkste!‹ sagt er.«
»Dann wird er der Berg!«
»Genau. Und in diesem Moment spürt er etwas, das auf ihn einschlägt. Etwas, was stärker ist als er, was ihn von innen aushöhlt. Das ist … ein kleiner Steinhauer …«
»Aaah!«
»Hat dir die Geschichte gefallen?«
»Ja. Mama!« »Bist du sicher, daß du im Fernsehen keine schönere gesehen hast?«
»Nein, Mama.«
Sie lachte und schloß ihn in ihre Arme.
»Sag mal, Mama, glaubst du, Papa gräbt da unten auch?«
»Vielleicht, wer weiß? Jedenfalls scheint er zu glauben, daß er sich in etwas anderes verwandelt, so oft wie er da runtergeht.«
»Fühlt er sich hier nicht wohl?«
»Nein, mein Kind, er schämt sich, arbeitslos zu sein. Er glaubt, es ist besser, Sonne zu sein. Eine unterirdische Sonne.«
»Papa hält sich für den König der Ameisen.«
Lucie lächelte.
»Das geht vorbei. Weißt du, er ist auch ein Kind. Und Kinder sind von Ameisenhaufen immer fasziniert. Hast du denn nie mit Ameisen gespielt?«
»Und ob, Mama!«
Lucie rückte sein Kopfkissen zurecht und küßte ihn.
»Und jetzt leg dich schlafen. Na komm, gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mama.«
Lucie sah die Streichhölzer auf dem Nachttischchen. E r mußte doch noch versucht haben, die vier Dreiecke zu bilden.
Sie ging ins Wohnzimmer zurück und griff nach dem Architekturbuch, in dem die Geschichte des Hauses erzählt wurde.
Zahlreiche Wissenschaftler hatten darin gelebt. Protestanten vor allem. Michel Servet zum Beispiel hatte einige Jahre hier gewohnt.
Eine Passage fesselte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders.
Angeblich war während der Religionskriege ein unterirdischer Gang gegraben worden, um den Protestanten die Flucht aus der Stadt zu ermöglichen. Ein ungewöhnlich langer und ungewöhnlich tiefer Stollen …
Die drei Insekten stellen sich zu einem Dreieck auf, um eine absolute Kommunikation zu praktizieren. So brauchen sie ihre Abenteuer nicht zu erzählen, sie wissen augenblicklich, was ihnen widerfahren ist, als wären sie ein einziger Körper, der sich dreigeteilt hat, um besser ermitteln zu können.
Sie vereinigen ihre Antennen. Die Gedanken beginnenz u strömen, zu verschmelzen. Das geht reihum. Jedes Gehirn agiert wie ein Transistor, der die elektrische Nachricht, die er selbst erhält, anreichert und weiterleitet. Drei Ameisengeister, die auf die Art vereinigt sind, übersteigen die schlichte Summe ihrer Talente.
Aber plötzlich ist der Zauber dahin. Nr. 103 683 hat einen schmarotzenden Duft wahrgenommen. Die Mauern haben Antennen. Genauer gesagt zwei Antennen, die durch die Öffnung der Kammer von Nr. 56 hereinlugten. Jemand hört ihnen zu …
Mitternacht. Jonathan war seit genau zwei Tagen in dem Keller verschwunden. Lucie wanderte nervös im Wohnzimmer auf und ab. Sie schaute nach Nicolas, der tief schlief, als sich ihr Blick plötzlich auf etwas heftete. Die Streichhölzer. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dem Rätsel mit den Streichhölzern könnte der Ansatz zu einer Lösung dieses Rätsels stecken, das der Keller darstellte. Vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern …
»Man muß anders denken – wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist – erreicht man nichts«, hatte Jonathan die Worte seines Onkels wiederholt. Sie nahm die Streichhölzer und ging ins Wohnzimmer zurück, um dort lange mit ihnen zu spielen.
Schließlich legte sie sich, vor Angst erschöpft, schlafen.
In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Zunächst sah sie Onkel Edmond oder zumindest eine Person, die der Beschreibung entsprach, die ihr Jonathan von ihm gegeben hatte. Er stand in einer langen Kinoschlange, die sich mitten durch eine Steinwüste zog. Mexikanische Soldaten umstellten die Schlange und achteten darauf, daß »nichts schiefging«. In der Ferne waren ein Dutzend Galgen zu sehen, an denen die Leute aufgehängt wurden. Wenn sie tot waren, wurden sie abgenommen, und andere nahmen ihre Stelle ein. Und die Schlange rückte vor …
Hinter Edmond standen Jonathan, sie selbst und ein dicker Mann mit einer ganz kleinen Brille. All diese zum Tode Verurteilten plauderten gelassen, als ob nichts wäre.
Als man ihnen endlich die Schlinge um den Hals legte und sie alle vier nebeneinander aufhängte, warteten sie nur untätig.
Onkel Edmond entschloß sich als erster zu reden, mit heiserer Stimme fragte er: »Was tun wir
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