Mondlaeufer
Kapitel 1
Graypearl, der schmucke Palast von Prinz Lleyn, lag auf der Spitze des Hügels inmitten einer Parklandschaft voll saftigem Frühlingsgras und blühenden Bäumen. Seinen Namen verdankte das Schloss dem sanften Schimmer, der es im Morgenlicht und bei Sonnenuntergang überzog. Es gehörte zu den wenigen Prinzenresidenzen, die niemals eine Festung gewesen waren. Noch nie hatte man auf Dorval Verteidigungsanlagen gebraucht, denn seit jeher herrschte Frieden auf der Insel und mit dem nahe gelegenen Festland. Die Türme von Graypearl waren nicht für den Krieg, sondern um der Schönheit willen errichtet worden.
In geschwungenen Terrassen lagen die Gärten oberhalb eines kleinen Hafens, aus dem zur Erntezeit die Boote der Perlentaucher zu den Muschelbänken hinaussegelten. Ein Trupp von Gärtnern sorgte dafür, dass die allerorts sprießenden Frühlingsblumen, Kräuter und Bäume nicht außer Rand und Band gerieten – doch niemand konnte den Jungen in eine ähnliche Ordnung zwängen, der dort durch die Rosenbüsche rannte, wobei er einem komplizierten Muster folgte und dabei einen Ball aus Hirschleder vorantrieb. Er war eher klein und schmächtig für seine vierzehn Jahre, doch es gab zahlreiche Anzeichen, dass er noch wachsen würde, und er bewegte sich mit einer Behändigkeit, der die älteren Edelknaben bei ihren Kampfspielen mit den Holzschwertern und den stumpfen Messern bereits nachtrauerten. Der dunkelblonde Haarschopf umrahmte ein kluges, ovales Gesicht mit auffallend großen, klaren Augen, die je nach Stimmung und der Farbe seiner Kleidung blau oder grün erschienen. Es war ein lebhaftes Gesicht, das Intelligenz und Feingefühl verriet und dessen Züge im selben Maße, wie sie alles Kindliche verloren, immer mehr seine vornehme Herkunft verrieten. Doch nichts ließ vermuten, dass er etwas anderes war als irgendein Edelsohn, der am Hof von Prinz Lleyn erzogen wurde und der es genoss, von seinen täglichen Pflichten erlöst, im Garten spielen zu können. Es gab keinerlei Hinweis darauf, dass er der einzige Sohn des Hoheprinzen war, dazu ausersehen, nicht nur die Wüstenländereien seines Vaters, sondern auch die Prinzenmark zu erben.
Prinzessin Audrite beobachtete den Knaben mit nachsichtigem Lächeln. Wie dieser Knabe waren auch die Söhne von ihr und Chadric, dem Erben von Lleyn, an andere Höfe gesandt worden und als wohlerzogene, junge Ritter zurückgekehrt. Sie waren dann keine kleinen Jungen mehr. Sie war jedes Mal etwas traurig gewesen, dass sie ihr Aufwachsen nicht miterlebt hatte. Doch andere Jungen hatten ihre Zeit und manchmal auch einen Winkel ihres Herzens beansprucht. Mit seiner raschen Auffassungsgabe und seinem strahlenden Lächeln war Maarken, der älteste Sohn von Lord Chaynal von Radzyn und Cousin dieses Jungen, der da im Garten spielte, ihr besonders lieb gewesen. Dieser junge Prinz hier hatte jedoch etwas Besonderes. Aus Licht und Luft war er geschaffen, und nicht nur mit seinem jäh auflodernden Temperament, sondern auch seinem Sinn für Unfug hatte er sich schon öfter Ärger eingehandelt. Eigentlich hätte er an diesem Nachmittag nicht frei haben sollen wie die anderen Knappen, schuldete er ihr doch noch einhundert Verszeilen für sein gestriges Vergehen in den Küchen … Ein Haufen Pfeffer und eine berstende Fischblase waren daran beteiligt gewesen, nach den näheren Einzelheiten hatte sie lieber nicht so genau gefragt. Erfinderisch war er allerdings, der kleine Pol. Audrite musste unwillkürlich lachen. Dass er dafür Verse abschreiben musste, war eine angemessene Strafe. Hätte sie ihm einhundert Rechenaufgaben gegeben, so hätte er diese auf der Stelle gelöst, ohne darin eine Strafe zu sehen.
Die Prinzessin schüttelte ihren Seidenumhang auf und nahm auf einer Bank Platz. Sie wollte Pol spielen lassen, bis sie die richtigen Worte für das gefunden hätte, was sie ihm sagen musste. Doch da flog nach einem kräftigen Tritt der Lederball genau an ihr vorbei, und der Junge kam so gerade noch vor ihr zum Stehen. Trotz seiner Überraschung begrüßte er sie mit einer formvollendeten Verbeugung.
»Verzeiht mir, Herrin. Ich wollte Euch nicht stören.«
»Schon gut, Pol. Ich habe dich nämlich gesucht und wollte nur noch ein Weilchen im Schatten sitzen. Wir haben einen recht heißen Frühling, nicht wahr?«
Er war noch zu unerfahren in der Kunst der höflichen Konversation, um ihr Geplauder über das Wetter aufzunehmen. »Was habt Ihr für Neuigkeiten?«
Audrite beschloss, ihm
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