Die amerikanische Nacht
clowneske Art böse aus, als sie den Stoff geradezog.
»Sie sollten was essen. Oder nach Hause gehen. Mal ordentlich ausschlafen.«
Sie sah mich in schläfriger Verwirrung an, als hätte ich wieder etwas Abstoßendes gesagt. Harry schob ihr das zweite Glas hin, und sie kippte es ohne ein Wort hinunter.
Ich räusperte mich und lächelte ihn an. »Wie gesagt, ich bin ein Freund von Fadil.«
Der Name – arabisch – sagte ihm etwas. Er nickte widerwillig und ging hinüber zum anderen Ende der Bar, wo ihm ein kleiner, fetter Mann zuwinkte.
Ich beugte mich zu der Frau hinunter.
»Vielleicht können Sie mir helfen.«
Doch sie achtete nur auf den jungen Hilfskellner, der vor uns unter der Bar Gläser stapelte. Mit seinen struppigen braunen Haaren und den Sommersprossen sah er aus wie höchstens sechzehn, als wäre er direkt aus einem Bild von Norman Rockwell gesprungen.
»Hey«, flüsterte sie. »Tust du mir einen Gefallen? Besorgst mir einen Wodka-Cranberry?«
Er ignorierte sie.
»Ach,
Scheiße
. Keine Sorge wegen Harry. Der ist ein Schlappschwanz. Ich verdurste.«
Ihr Flehen, das im nächsten Augenblick schrill zu werden drohte, ließ den Jungen widerstrebend zu ihr aufsehen, dann zum anderen Ende der Bar, wo Harry mit der Zubereitung eines Drinks beschäftigt war. Sie muss ihm leidgetan haben, denn er drehte sich um und schnappte sich die Flasche Smirnoff.
»Du bist ein Engel«, flüsterte sie.
Er gab den Saft hinzu, stellte das Glas vor ihr ab und stapelte weiter Gläser.
»Kann ich ein bisschen Eis bekommen?«, fragte ich und schob ihm meinen Drink hin.
Er nickte. Als er mit dem Glas zurückkam, ließ ich einen Hundert-Dollar-Schein in seine Hand rutschen. Er sah mich erschrocken an.
»Keine Reaktion zeigen«, sagte ich und sah quer über die Bar zu Harry hinüber. »Ich brauche ein paar Infos.« Ich holte das Foto von Ashley aus der Tasche und schob es über die Bar.
»Erkennst du sie?«
Er hielt den Blick gesenkt und stapelte Gläser.
»Nehmen Sie’s von der Bar runter«, flüsterte er. »Hier gibt’s Kameras.«
Ich steckte es in meine Brieftasche. Wenn uns jemand beobachtete, würde er hoffentlich denken, ich hätte dem Jungen bloß ein Bild meiner Tochter gezeigt – oder, wenn ich mir die Gäste so ansah, meiner minderjährigen, osteuropäischen Freundin, die kein Wort Englisch sprach.
»Kannst du mir weiterhelfen?«, fragte ich.
Der Junge schielte nach rechts und kratzte sich an der Wange. Ȁh,
ja
, sie war der Verstoß.«
»Der
was
?«
Er stapelte weiter Gläser. »Sie war der Sicherheitsverstoß von vor zwei Wochen. Ihr Foto hängt unten.«
»Was ist passiert?«
»Tut mir leid. Ich kann das nicht. Ich steck richtig in der Scheiße, wenn …«
»Hier geht’s um Leben oder Tod.«
Der Junge sah mich nervös an. Ein Job als Zeitungsausträger oder Pfadfinderleiter hätte besser zu ihm gepasst, als an so einem Ort zu arbeiten. Ich griff in meine Tasche und holte einen zweiten Hundert-Dollar-Schein heraus, beugte mich über die Bar, um mir einen der schwarzen Cocktailrührer zu nehmen, und ließ den Schein vor seine Füße fallen.
Er bückte sich und hob ihn auf. Dann machte er sich daran, die Stapel roter Cocktailservietten zu sortieren. Sie waren mit einem schwarzen O bedruckt, doch als ich mir den Buchstaben genauer ansah, fiel mir auf, dass es ein geöffneter Mund war, ein
schreiender
Mund.
»Sie hat einen Gast angegriffen«, sagte der Junge kaum hörbar.
»Angegriffen?«
»Sie ist richtig auf ihn los. Hab’ ich gehört.«
»Und wie?«
Er schien es nicht weiter ausführen zu wollen – oder wusste nicht mehr.
»Welchen Gast?«
Er blickte ängstlich zu Harry hinüber und griff nach einem Handtuch, um die Theke abzuwischen.
»Er wird die Spinne genannt.«
»Was?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das ist sein Spitzname.«
Die Worte hatten eine seltsame Wirkung auf das Mädchen. Sie hatte ihren Drink geschlürft, ohne uns zu beachten, doch jetzt drehte sie sich auf ihrem Barhocker zu mir um und versuchte, ihre übernächtigten Augen auf mich scharfzustellen.
Ich wandte mich wieder dem Jungen zu, der jetzt mit einer silbernen Zange das Kristallgefäß auf der Bar mit Maraschinokirschen auffüllte. Zu meiner Überraschung waren die Kirschen komplett schwarz, inklusive der Stiele. Es waren ausschließlich Doppelkirschen, jede war mit einer anderen fest verbunden.
»Wie lautet sein echter Name?«, fragte ich und nippte lässig an meinem Drink.
Der Junge schüttelte
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