Die amerikanische Nacht
Bewegungen nur unter Beruhigungsmitteln erlaubt –, verließen die beiden die Gruppe. Sie führte ihn am Handgelenk an einer zerbröckelnden Steinmauer entlang die Stufen hinauf. Hinter der Mauer war die Ägäis zu sehen. Sie schlüpften durch einen Torbogen und verschwanden auf einem der Pfade. Insgesamt gab es mindestens zwölf dieser identisch aussehenden Durchgänge. Sie führten zu –
zu was
? Zum »Crying Game«. Irgendetwas aus »Eyes Wide Shut«.
Das musste ein Edel-Bondage-Club sein. Das Verlangen wahnsinnig erfolgreicher Männer, sich zum Vergnügen quälen zu lassen, sollte man nie unterschätzen.
»Darf ich Ihnen etwas bringen, Mr …?«
Ich drehte mich um und sah einen Barkeeper vor mir stehen. Er trug wie alle anderen einen eleganten grauen Anzug und eine blaue Seidenkrawatte mit doppeltem Windsorknoten, doch er war muskulös und sein Bürstenschnitt, das markante Gesicht und die kerzengerade Haltung ließen mich auf Ex-Soldaten tippen.
»Scotch, ohne Eis«, sagte ich.
Er bewegte sich nicht vom Fleck. Die Freundlichkeit verschwand aus seinem Gesicht.
Ich machte etwas falsch, ich gab mich als Betrüger zu erkennen.
Ich reagierte nicht. Er auch nicht. Er war durch anabole Steroide so muskelbepackt, dass er wie eine Actionfigur aussah, als ließen sich seine Arme an den Ellbogen nicht knicken und als könnte sein Kopf abspringen, wenn man zu heftig damit spielte.
»Welcher Scotch soll es sein?«, fragte er.
»Wählen Sie aus.«
Er nahm die Flasche Glenfiddich aus dem Regal.
Während er meinen Drink einschenkte, öffnete sich neben der Bar eine versteckte Tür – eine idyllische Landschaft in der Toskana –, und der junge Typ, den ich draußen mit den Müllsäcken gesehen hatte, kam mit einer Kiste Gläser herein. Mit gesenktem Blick – auch ihm schien man aufgetragen zu haben, Blickkontakt zu vermeiden – fing er an, sie auf den verspiegelten Regalen zu stapeln.
Der Barkeeper brachte mir meinen Drink und blieb erwartungsvoll vor mir stehen.
»Ihre Karte?«, forderte er mich auf.
»Welche denn?« Ich suchte betont umständlich nach meiner Brieftasche.
»Die
Mitgliedskarte
.«
»Ja, die habe ich nicht. Ich bin als Gast hier.«
»Als wessen Gast?«
»Harry, kann ich schnell ein Glas Wasser haben? Mir ist schwindlig.«
Ich hätte es nicht besser timen können. Eine der Frauen – oder
Jungs
, wenn sie denn welche waren – hatte sich von der Seite angeschlichen. Sie hatte das Gesicht einer schmollenden Puppe, langes blondes Haar und trug ein lila Seidenkleid, das so eng war, dass es tatsächlich angegossen zu sein schien.
Der Barkeeper Harry – er sah eher aus wie
Arnold
– warf ihr einen wütenden Blick zu, der erkennen ließ, dass sie mit ihrer Frage grob gegen die Regeln verstieß.
»Geh nach unten«, sagte er mit einem angespannten Lächeln.
»Kann ich nicht. Ich – ich brauche nur etwas Wasser, dann geht’s wieder.«
Er blitzte sie an, warf mir einen strengen Blick zu –
mit dir bin ich noch nicht fertig
– und entfernte sich.
»Netter Kerl«, sagte ich und drehte mich zu ihr um.
Sie sah mich verunsichert an, mit den Händen – auch sie hatte diese langen, schwarz lackierten Fingernägel – klammerte sie sich an die Bar, als müsse sie sich daran festhalten, um nicht, dünn wie sie war, wie ein Heliumballon zur Decke zu schweben. Ihre stark geschminkten blauen Augen wirkten wässrig, die Pupillen geweitet. Sie hatte etwas mit ihrem Mund angestellt, um ihn aufzubauschen, hatte irgendetwas hineingespritzt, was ihn so übertrieben und traurig aussehen ließ wie den eines Clowns.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
Das führte zum sofortigen Game Over. Sie warf mir einen eisigen Blick zu. Ich war mir sicher, dass sie gehen würde, doch stattdessen legte sie den Kopf in den Nacken.
»Sie sind ein Freund von Fadil«, sagte sie.
»Wo
ist
Fadil? Hab ihn noch gar nicht gesehen.«
»Zurück in Frankreich, oder?«
Harry knallte das Glas Wasser auf die Theke. Sie nahm es und schüttete es hinunter. Ein Tropfen Wasser rann an ihrem roten Mund vorbei über ihr Kinn. Sie stellte das leere Glas ab und stand wackelig auf ihren hochhackigen Schuhen. Wortlos ging der Barkeeper, um es erneut aufzufüllen.
Er kannte das Prozedere bereits.
Sie wischte sich den Mund mit der Rückseite ihrer Hand ab.
»Ist wirklich alles klar?«, fragte ich leise.
Sie antwortete nicht, sondern kontrollierte den tiefen V-Ausschnitt ihres Kleides. Ihr aufgequollener Mund sah auf
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