Die amerikanische Nacht
damit nur zehn Monate älter als ihre Schwester Marlowe Hughes.
Selbstverständlich wurde Marlowe Hughes nicht als Marlowe Hughes geboren. Ihr eigentlicher Name lautete Jean-Louise »J. L.« Endicott. Sie wurde am 1 . Februar 1949 in Tokio geboren.
Die meisten Menschen kommen als rote, verschrumpelte Trolle auf die Welt. J. L. sah aus wie ein Engel. Als die Hebammen ihr einen Klaps auf den Hintern gaben, damit sie anfing zu atmen, kreischte sie nicht wie ein Affe los, sondern seufzte, lächelte und schlief ein. Von dem Augenblick an, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war es, als habe sich Olivia in ein Möbelstück verwandelt.
»Olivia war nicht hässlich«, sagte Beckman. »Ganz und gar nicht. Mit ihrem dunklen Haar und dem netten Gesicht sah sie hübsch aus. Doch seit sie zehn Monate alt war, hätte sie, sobald ihre Schwester den Raum betrat, genauso gut eine Chintzgardine sein können.«
Ihre Familie war beim Militär. Die Mutter war Krankenschwester, der Vater Arzt in der Iruma Air Base. 1950 zog die Familie von Japan ins kalifornische Pasadena, doch schon wenige Monate darauf ließ der Vater, John, die Familie im Stich. Um die Schulden zu bezahlen, war die Mutter gezwungen, als Zimmermädchen in einem Motel zu arbeiten und in einem Restaurant zu spülen. Jahre später heuerte Marlowe einen Detektiv an, um ihren Vater zu finden. Es stellte sich heraus, dass er mit einem Oberst der Army, mit dem er immer noch zusammen war, nach Argentinien gegangen war.
Keine der Schwestern verlor je wieder ein Wort über ihren Vater.
Die Rivalität bestand schon in der Grundschule. Olivia zerschnitt J. L.s Kleider und pinkelte auf J. L.s Zahnbürste. Um sich zu rächen, brauchte J. L. nur dort aufzutauchen, wo Olivia war – im Ballettunterricht, bei der Chorprobe –, und schon war diese nur noch »ein winziger Riss in der Tapete«, wie Beckman es ausdrückte. Denn J. L. konnte ebenfalls tanzen
und
singen. Und während Olivia schüchtern, verklemmt und nervös war, riss J. L. schmutzige Witze und warf den Kopf beim Lachen in den Nacken. Sie war eine blonde Ava Gardner: grüne Augen, leichte Kinnspalte (als hätte Gott dieses Stück Arbeit signieren wollen und stolz seinen Daumen hineingedrückt), ein herzförmiges Gesicht. Die Reaktion war immer dieselbe, von der Ballettlehrerin über den Chorleiter bis zu Olivias eigenen Freunden: Betörung.
Insgeheim nannte Olivia ihre Schwester
Gelee
Endicott, eine Verballhornung ihrer Initialen.
Nach der Grundschule gingen sie nicht auf dieselbe Schule – das war der Versuch ihrer Mutter, die Spannungen zwischen ihnen zu entkräften –, doch ausnahmslos jeder Junge, den Olivia nach Hause brachte, verknallte sich in J. L. Machte sie das absichtlich? War sie schuld an ihrem Aussehen?
Beckman hielt es für unausweichlich.
»Wenn du einen Aston Martin geschenkt bekommst, probierst du erstmal aus, wie schnell er fährt. Natürlich hat Marlowe es als Teenager übertrieben. Wenn Olivia ihr etwas getan hatte, ihr die Hausaufgaben gestohlen oder Mayonnaise in ihre Pond’s Cold Cream getan hatte, dann fläzte sich J. L. in Shorts und Bustier auf dem Sofa, um vor den Augen von Olivias Freund ›The Ford Television Theatre‹ zu gucken. Wenn Olivia dann vorschlug, in ihr Zimmer zu gehen, konnte der arme fiebernde Junge sie gar nicht mehr hören.«
Olivia nahm sich vor, ihre Freunde von zu Hause fernzuhalten. Doch zu verhindern, dass sie ihre Schwester sahen, war so, als wollte man die Sonne am Aufgehen hindern.
»Welche Möglichkeiten blieben Olivia, der Sterblichen, die durch die Genetik an eine Göttin gekettet war?«
Sie lief von zu Hause weg.
1964 , mit sechzehn, zog Olivia mit zwei Freundinnen aus Miss Dinas Ballettschule nach West Hollywood. Drei Monate später hatte Olivia einen Agenten und übernahm eine kleine Statistenrolle in dem Film »Beach Blanket Bingo« von 1965 . Sie arbeitete hart, war fleißig und probte mehr als alle anderen. Olivia hatte endlich ihre eigene Stimme und ihre Berufung gefunden. Sie landete Fernsehrollen, unter anderem in »Renn um dein Leben« und »Im Tal des Todes«.
»Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl zu existieren«, sagte Beckman.
Zu diesem Zeitpunkt hatte J. L. die Schauspielerei noch nicht auf dem Schirm.
Sie hatte Sex für sich entdeckt, nachdem sie ihre Unschuld an einen Physiklehrer verloren hatte. Doch als in der
Variety
eine kurze Besprechung über Olivia mit dem Titel »Die Stars von morgen«
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