Die amerikanische Nacht
überrascht an.
»Hat sie sich seltsam benommen?«, fragte ich ihn.
»Außer, dass sie nicht viel gesprochen hat? Eigentlich nicht.«
»Sah sie krank aus?«
»Ein bisschen blass vielleicht.«
»Wissen Sie, wer sie 2004 tätowiert hat?«
»Einer meiner damaligen Angestellten. Larry. Das konnte ich am Tattoo erkennen.«
»Und wo finden wir Larry?«
Tommy schmunzelte. »Irgendwo zwischen Himmel und Hölle.«
Er wischte die fertige Blüte mit einem Tuch ab, kontrollierte sie noch einmal genau und machte sich dann an die nächste.
»Larry tätowierte ganz normal vor sich hin, und im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und das Blut schoss aus seiner Nase wie die Bellagio-Fontänen in Vegas. Er ist im Krankenwagen gestorben. Aneurysma.« Er beugte sich wieder hinab zu seinem Kunden. »Ist wirklich alles in Ordnung, Mel? Du siehst aus wie ’ne Leiche.«
»Ich hör euch zu«, sagte Mel.
Tommy legte die Stirn in Falten, sah uns an und seufzte.
»Ich sag Ihnen was. An dem Tag, an dem Ihre Freundin hier war, bin ich abends nach Hause. Ich musste daran denken, was mit Larry passiert ist, ein paar Wochen vor seinem Tod. Das war so Sommer 2004 . Damit Sie verstehen, was ich jetzt erzähle, müssen Sie wissen, dass Larry ein richtiges Monster war. Der war größer als ein Kühlschrank und fetter als ein Fernsehsessel, das schwör ich auf ’nen Stapel Bibeln.«
»Dicker als ich?«, fragte Mel mit gedämpfter Stimme von unter der Liege.
»Nicht dicker als du. Aber nah dran.« Tommy machte sich wieder an die Arbeit. »Er war ein verdammt guter Künstler. Hat in Yokohama bei einem der Horiyoshis gelernt. Der Kerl hatte es wirklich drauf, der konnte es mit den Allerbesten aufnehmen. Er beherrschte
Tebori
,
Horimono, Irezumi
, einfach alles. Nur deshalb habe ich ihn nicht rausgeschmissen. Der war nämlich ein Arschloch. Das hätte ich ihm auch so ins Gesicht gesagt. Der war sogar stolz darauf, was für ein Arschloch er war. Er hasste Kinder. Nannte sie Larven. Er hatte vier Freundinnen, die nichts voneinander wussten. Sein ganzes Leben war so. Nur Lügen und miese Tricks, er rief nie zurück und ließ alle hängen. Aber eines Tages komme ich rein und der Laden ist ganz ruhig. Das Licht ist aus und Larry sitzt ganz allein im Dunkeln, als wär er krank oder so was. Ich frag ihn, was los ist. Er ist total niedergeschlagen, erzählt mir, sein Leben ist Scheiße. Er ist ein Feigling und ein Betrüger, sagt er. Dass er zu viele Fehler gemacht hat. Er sagt, er will seine Prioritäten ändern. Das war das erste Mal, dass ich von ihm ein viersilbiges Wort gehört habe. Also versuch ich, ihn aufzubauen. Ich frage ihn, was zur Hölle zu seiner Erlösung geführt hat. Er sagte, dass er gerade ein japanisches Doppel für zwei Teenager gemacht hatte. Sie waren vor zehn Minuten gegangen. Er sagte, dass sie verliebt waren und dass von ihnen eine elektrische Spannung ausging. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wenn nicht mal ein Sturm zu sehen ist, einfach nur ein wahnsinniger Riss im Himmel. Und wenn man so was vor sich sieht, kann man gar nicht anders, als ganz neue Möglichkeiten wahrzunehmen. Er fing an, vom Leben und der Liebe und von
Versprechen
zu quatschen.« Tommy sah zu uns auf und verzog das Gesicht. »Auf einmal wird der Kerl zu Shakespeare. Ich hör gar nicht zu. Ich bin total angepisst, weil er zwei Kindern illegale Tattoos verpasst hat. Dafür hätte ich meine Lizenz verlieren können. Und außerdem war das immer noch
Larry
. Ich war mir sicher, dass er ein paar Tage später wieder zum Arschloch werden würde. Eine Woche später komme ich in den Laden.« Tommy schüttelte lächelnd den Kopf und rieb sich das Kinn. »Und da steht ein junges Mädchen. Sie sieht richtig komisch aus. Groß. So lange Arme und Beine, dass sie sich beim Laufen verheddern. Zahnspange. Krauses Haar, so lang.« Er hielt die Hand dreißig Zentimeter von seinem Kopf entfernt. »Überall Sommersprossen, als ob was explodiert wäre. Ich frage, zu wem sie gehört.
Zu Larry!
Wie sich rausstellt, ist sie die Tochter, die er hat sitzenlassen, als er ein paar Jahre vorher in Kentucky gearbeitet hat. Er sagt, dass er jetzt ein richtiger Vater sein will.« Tommy grinste, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Tattoo zu. »Ein richtiger Vater. Das war ein paar Tage, bevor er abgekratzt ist. Keine Ahnung, ob die beiden Teenager für seine Verwandlung verantwortlich waren. Ich geh davon aus. Ich stelle mir vor, dass es endgültig gewesen wäre.
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