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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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der Nase in einem der engen Gänge stand, überzeugt war, in Chinas Chongqing-Provinz gelandet zu sein.
    Sie hatten ganze getrocknete Hühner, die an den Krallen aufgehängt waren, zigtausend verschiedene Nudeln, Schwarztees und tödlich aussehendes Gemüse – rote Chilis, die ein Jahr lang die Zunge betäuben würden; Grünzeug, das so stachelig war, dass es beim Schlucken wahrscheinlich die Kehle aufschlitzen würde. Von außen sah der Laden aus wie ein gefährlicher Verbrecher, der auf der Straße herumlungerte – die dreckige rote Markise tief über die schmutzigen Fenster gezogen, davor Auslagen mit lädiertem Obst.
    Ich folgte Nora, die im hinteren Teil des Ladens verschwunden war, und fand sie vor einem mit Tüten beladenen Tisch stehen, die nach Kartoffelchips aussahen – bis ich den Aufkleber las: GETROCKNETE TINTENFISCHCHIPS .
    Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich habe gerade mit einem Mann gesprochen, aber er ist da durch verschwunden.« Sie zeigte auf zwei Stahltüren neben einigen Aquarien, in denen graue Fische trieben.
    Als ich ans Telefon gegangen war, hatte ein Mann, der kaum Englisch sprach, verkündet, er habe Informationen, auch wenn er nicht sagen konnte, welcher Art. Irgendwann hatte ihm eine Frau den Hörer abgenommen und mir eine Adresse ins Ohr geblafft:
11  Market Street
. Das war in der Nähe des East Broadway, nur anderthalb Häuserblocks von der 83  Henry Street entfernt. Es war also gut möglich, dass Ashley dort gewesen war.
    Jetzt kam ein kleiner chinesischer Mann mittleren Alters auf uns zu, offenbar gefolgt von seiner gesamten Sippe: seine Frau, die ungefähr achtjährige Tochter und eine Großmutter, die aussah, als habe sie Mao Zedong noch persönlich gekannt.
    Verdammt – vielleicht
war
sie Mao. Sie hatte dieselbe langgezogene Stirnpartie, dasselbe müde Gesicht und trug eine graue Arbeiterhose und Flipflops. Ihre nackten Füße sahen aus wie rissige Ziegel, die aus der Chinesischen Mauer gefallen waren.
    Die Familie lächelte uns erwartungsvoll an, dann besorgten sie einen Stuhl für die alte Dame und halfen ihr, sich zu setzen. Anschließend reichte ihr die Ehefrau ein zerknittertes Blatt Papier, das ich als unser Vermisstenplakat erkannte.
    »Wir haben Informationen«, sagte das kleine Mädchen in perfektem Englisch.
    »Zu dem Mädchen auf dem Plakat?«, fragte ich nach.
    »Ja«, sagte das kleine Mädchen. »Sie war hier.«
    »Was hatte sie an?«, fragte ich.
    Die Familienmitglieder besprachen sich lautstark auf Chinesisch.
    »Einen leuchtend orangenen Mantel.«
    Das war nah genug dran.
    »Und was hat sie gemacht, als sie hier war?«, fragte ich.
    »Sie hat mit meiner Großmutter gesprochen.« Das kleine Mädchen deutete auf Mao, die den Flyer so sorgfältig studierte, als handelte es sich um einen Vortrag, den sie gleich vor der gesamten Klasse halten würde.
    »Auf Englisch?«
    Das kleine Mädchen kicherte, als hätte ich einen Witz gemacht. »Meine Großmutter spricht kein Englisch.«
    »Sie hat auf
Chinesisch
mit ihr gesprochen?«
    Das Mädchen nickte.
Ashley konnte Chinesisch.
Das hatte ich nicht erwartet.
    »Worüber haben sie gesprochen?«, fragte ich.
    Jetzt flog uns minutenlang so viel Chinesisch um die Ohren, dass Nora und ich nur zuschauen konnten. Schließlich verstummte der Rest der Familie, weil endlich
Mao
gesprochen hatte. Ihre ausgetrocknete Stimme war kaum zu hören.
    »Sie hat meine Großmutter gefragt, wo sie geboren wurde«, erklärte das Mädchen. »Ob sie ihr Zuhause vermisst. Sie hat Kaugummi gekauft. Und dann hat sie mit einem Taxifahrer geredet, der immer zum Essen hierherkommt. Er hat gesagt, er würde sie hinbringen, wohin sie wollte. Meine Großmutter mochte sie sehr. Aber Ihre Freundin war sehr müde.«
    »Inwiefern müde?«, fragte ich.
    Das Mädchen hielt Rücksprache mit Großmutter Mao. »Sie war schläfrig«, antwortete sie.
    »Dieser Taxifahrer, weißt du, wer das war?«
    Sie nickte. »Er kommt hierher, um zu essen.«
    »Um welche Uhrzeit?«
    Dies löste eine weitere Debatte aus, in der sich vor allem die Mutter des Mädchens hervortat.
    »Neun Uhr.«
    »Kommt er heute noch?«, fragte Nora.
    »Manchmal kommt er. Manchmal nicht.«
    Ich sah auf meine Uhr. Es war acht.
    »Dann können wir auch warten«, sagte ich zu Nora. »Mal sehen, ob er hier auftaucht.«
    Ich erklärte es dem Mädchen, die es an ihre Familie weitergab. Ich dankte ihnen und lächelte sie an, während die gesamte Familie vortrat und uns die Hand schüttelte.

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