Die amerikanische Nacht
Wieso nicht? Manchmal können einen die Menschen überraschen. Manchmal reißen sie einem das Herz raus und machen Hackfleisch daraus, oder?«
Er sagte das mit einer solchen Entschiedenheit, dass sich seine Stimme überschlug. Er verstummte einen Moment lang, räusperte sich und beugte sich wieder über seinen Kunden, um die letzte rosa Blüte auszumalen.
»An dem Tag, als Ihre Freundin hier war, bin ich abends nach Hause und habe nachgedacht. Ich fragte mich, ob sie eine der beiden Jugendlichen war, von denen Larry gesprochen hatte. Eine der beiden Ausreißer. Denn so hatte er sie genannt. Sie wollten zusammen irgendwohin. Keine Ahnung, wohin. Wahrscheinlich Timbuktu.«
Tommy hörte auf zu arbeiten und sah zu uns auf. In seinem Gesicht war eine erstaunliche Zärtlichkeit zu erkennen.
»Also, wer war sie?«, fragte er.
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Ich gab Nora den Ausdruck zurück.
»Warum war Ashley bei
Rising Dragon
, um das Foto zu holen?«, fragte Nora. Sie saß auf dem Sofa, Septimus flatterte über die Armlehne.
»Vielleicht enthielt das Foto einen Hinweis«, sagte ich. »Etwas, das ihr helfen sollte, diese Spinne zu finden.«
»Vielleicht hat die Spinne die andere Hälfte des Tattoos.«
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Ich beugte mich vor und überflog die Zeitleiste von Ashleys Bewegungen, die ich auf meinem Laptop angelegt hatte. »Devold hat Ashley am 30 . September aus Briarwood herausgeholt. Am 4 . Oktober war sie im
Klavierhaus
und hat auf dem Fazioli Flügel gespielt.
Rising Dragon
Tattoos am 5 . Zwei Tage später, am 7 ., war sie wieder im
Klavierhaus
. Dem Geschäftsführer Peter Schmid zufolge war sie ungepflegt und benahm sich seltsam. Am 10 . hat sie Hopper das Päckchen geschickt und die Bar im Four Seasons besucht, und ein paar Stunden später in dieser Nacht ist sie zu Tode gestürzt oder gesprungen oder geschubst worden. Irgendwann in diesen elf Tagen ist sie in der 83 Henry Street abgestiegen, war im
Oubliette
und im Waldorf Towers.«
Und nicht zu vergessen –
sie war auch noch am Reservoir See.
»Es scheint fast so, als hätte sie wichtige Orte ein letztes Mal besucht«, sagte Nora, »um noch ein paar Dinge zu erledigen, sich ein letztes Mal umzusehen, bevor sie …« Sie war nicht in der Lage, den Gedanken zu Ende zu bringen.
»Bevor sie sich umgebracht hat«, beendete ich den Satz.
Sie nickte widerwillig.
»Oder bevor jemand, vor dem sie sich versteckte – oder den sie verfolgte – sie fand.«
»Jemand wie die Spinne«, sagte Nora.
Es musste einen verborgenen Grund geben, der Ashleys Wanderungen eine Logik verlieh, einen Grund, der
nicht
der Entschluss war, Selbstmord zu begehen. Was hatte Peg Martin über die Familie gesagt?
Sie haben das Leben mit sich selbst aufgesaugt. Keiner von ihnen war von irgendetwas belastet. Es gab keine Beschränkungen.
Der Wunsch, mit vierundzwanzig zu sterben, passte einfach nicht dazu – oder zu allem anderen, was wir bisher über Ashley erfahren hatten.
Und wenn die Cordovas keine Angst vor dem hätten, was ich aufdecken könnte, würde Theo Cordova mich nicht beschatten.
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Ich nahm mein BlackBerry, das mich brummend über den Eingang einer E-Mail informierte.
Ich hatte von meinem Anwalt Stu Laughton nichts mehr gehört, seit ich fast zwei Wochen zuvor auf dieser Wohltätigkeitscocktailparty gestrandet war. Er hatte mir eine Nachricht geschickt, um mich auf Ashleys Tod aufmerksam zu machen, und mich gebeten, ihn anzurufen.
Das hatte ich nicht getan. Stu war ein britischer Aristokrat und ein unverbesserliches Klatschmaul. Wenn ich ihm auch nur den kleinsten Hinweis gegeben hätte, dass ich meine Nachforschungen zu Cordova wieder aufnehmen würde, hätte es jeder von hier bis zur McMurdo Station in der Antarktis gewusst.
Ich wählte die Nummer seines Büros.
Seine Assistentin nahm ab. Nach kurzer Rücksprache mit ihm teilte sie mir mit, »Mr Laughton ist in einem Meeting«, was bedeutete, dass Stu an seinem Schreibtisch saß, ein Eiersandwich aß, am Rechner Solitaire spielte und mich zurückrufen würde, wenn ihm danach war.
Zu meiner Überraschung war das schon zwei Minuten später.
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»Du hast
geplaudert
«, sagte ich.
»Kein Wort!«, beharrte Stu am anderen Ende.
»Du musst meinen Namen bei einem deiner Geschäftsessen in Verbindung mit Cordova erwähnt haben. Es gibt keine andere Erklärung.«
»Es mag nicht leicht für dich sein, dies zu begreifen, aber ich habe auch noch andere Mandanten
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