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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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gehalten und gequetscht wie eine Tube Zahnpasta. Ich hab geschrien und geschrien, und als ich es nicht mehr aushielt, hat er ihn aus der Kabine geworfen. Erst wusste ich nicht, wo er war. Aber dann hab ich ihn auf dem Boden unter dem Heizkörper gefunden. Ich hab seinen Käfig und meine Tasche geschnappt und bin weggerannt, so schnell ich konnte. Die Läden hatten geschlossen, es war nichts los, nur ein paar Menschen, die wie Geister ins Nichts starrten. Ich fuhr mit der Rolltreppe hoch zur Straße. Ich ging rüber zum Taxistand, stieg ein und bat den Fahrer, mich zum Zentrum von allem zu bringen. Das hat Madonna gemacht, als sie nach New York kam. Sie hat den Taxifahrer gebeten, sie zum Zentrum von allem zu fahren.«
    Sie sah zu mir herüber, als hätte sie eine Frage gestellt.
    »Er wusste nicht, wo das war. Ich sagte, Times Square. Er brachte mich direkt zur 42 nd Street. Überall waren Leute, es war hell wie am Nachmittag. Und ich wusste, dass alles gut werden würde. Denn ich war genau dort, wo ich sein sollte. Ich hatte mein ganzes Leben lang das Gefühl gehabt, eigentlich woanders hinzugehören. Zum ersten Mal hatte ich es nicht mehr.« Nora drehte sich zu mir um, die Hände über den Knien verschränkt. »Das habe ich noch nie jemandem erzählt.«
    »Ich bin froh, dass du’s mir erzählt hast«, sagte ich.
    Es dauerte einen Augenblick, alles aufzunehmen. Die Geschichte schien wie giftiger Dampf im Raum zu hängen und sich nur langsam aufzulösen. Mir war ganz schlecht. Gleichzeitig hatte ich das überwältigende Bedürfnis, zu sehen, ob es ihr gutging, und sie von der Erinnerung an diese Sache zu befreien. Das Erlebnis selbst war nie das Problem, sondern das, was man in der Erinnerung daraus machte, immer und immer wieder.
    »Und zur Polizei wolltest du nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte keine Minute mehr darauf verschwenden. Mein Leben sollte
anfangen
. Die schlechten Sachen, die dir passieren, müssen keine Bedeutung haben. Außerdem wird er sich vor Gott für das verantworten müssen, was er getan hat.«
    Sie verkündete das mit absoluter Sicherheit. Dass ein Mädchen, das außer einem Wellensittich nichts besaß, so unerschütterlich an die Rache für das Böse in der Welt glaubte, flößte mir Ehrfurcht ein – ich selbst konnte diesen Glauben nicht teilen, weil ich zu oft gesehen hatte, wie Verderbtheit ohne Folgen blieb. Es dauerte eine Weile, bis ich etwas sagen konnte.
    Draußen fuhr ein Auto die Perry Street entlang. In der Stille der Nacht klang es schläfrig und entspannt; es hätte auch ein vorbeischwimmendes Ruderboot sein können.
    »Du bist ein großartiger und starker Mensch«, sagte ich.
    Das war nicht
genau
das, was ich sagen wollte – es war noch nie meine Stärke, die richtigen Worte auszupacken, um diese stets präsente Wunde im Herzen einer Frau zu heilen –, doch es brachte Nora zum Lächeln. Sie rutschte über die knarrende Matratze auf mich zu, küsste mich auf die Wange und hüpfte vom Bett, eine verschwommene bläuliche Gestalt, die durch die Dunkelheit schwebte.
    »Ich bin ein
Fan
«, fügte ich hinzu. »Mit lebenslanger, bedingungsloser Garantie. Wie ein Koffer von Victorinox oder Sportsocken von Footlocker.«
    Sie lachte müde und huschte aus dem Zimmer. »Nacht, Woodward«, sagte sie leise über die Schulter. »Danke für’s Zuhören.«
    Ich weiß nicht, wie lange ich da saß und in die Dunkelheit starrte. Die harten Schatten weichten langsam auf, und das einzige Geräusch war das nächtliche Zittern der Stadt. Selbst als ich nach einer Weile schon halb eingeschlafen war, war ihre Anwesenheit noch immer zu spüren, als sei eine wilde Kreatur in meinem Zimmer gewesen, ein Rehkitz oder ein schillernder Vogel – oder vielleicht ein
Kirin
.

71
    »Er hat die Nacht in den
Tombs
verbracht«, informierte mich Blumenstein am Telefon. »Ich habe einen jungen Kollegen hingeschickt, um ihn rauszuholen. Die Anklage wegen Einbruchs zweiten Grades haben sie fallengelassen, aber er wird sich für Hausfriedensbruch verantworten müssen. Die Kaution liegt bei rund 5000  Dollar.«
    »Warum so hoch?«, fragte ich und klemmte mir das Telefon ans Ohr, während ich meinen Mantel aus dem Schrank holte und anzog.
    »Er ist dreifach vorbestraft. Eine Tätlichkeit gegen einen Polizeibeamten in Buford, Georgia. Bagatelldiebstahl in Fitz Creek, Alaska.«
    »Alaska?«
    »Und dann vor zwei Jahren: Besitz von Rauschgift zum Zwecke des Verkaufs. Das war in Los Angeles.«
    »Welche Art

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