Die amerikanische Nacht
Olivia und ihren Ehemann, Knightly, vor vermutlich zwanzig Jahren. Sie hatten die Arme umeinandergelegt und posierten neben einem alten Bentley vor einem gigantischen Landsitz. Sie sahen glücklich aus, aber das hieß natürlich nicht viel.
Auf Fotos lächelt jeder.
Plötzlich setzte sich Nora auf.
Eine Frau betrat den Raum. Ich stand sofort auf, und Nora tat es mir nach. Sie strich sich hektisch den Rock zurecht.
Es war Olivia.
Sie schwebte eher, als dass sie ging. Um ihre Füße herum wuselten drei Pekinesen. Der Raum war offensichtlich für sie gestaltet worden, oder anders herum. Ihr kinnlanges braunes Haar mit silbernen Strähnen passte zum Perserteppich, den geschnitzten Löwentatzenbeinen des Tisches, sogar zum silbernen Zigarettenetui, in das ihre Initialen elegant eingraviert waren – OPE –, die feinen Buchstaben wie verknotete Haare im Abflusssieb einer Dusche.
Ich hätte nicht sagen können, was ich erwartet hatte – eine vor Schmuck starrende
Grande Dame
–, doch sie war überraschend leicht und luftig, ganz ohne Ornamente. Sie trug ein einfaches grauschwarzes Kleid und eine dicke Perlenkette, die sie zweimal um den Hals gewunden hatte. Ihr ovales Gesicht war attraktiv und weich, sorgfältig geschminkt, die langen, splitterförmigen Augenbrauen säumten ihre hellen braunen Augen. Ihr Hals war so elegant wie der Stängel einer Blume, die gerade erst zu verblühen beginnt.
Wie oft hatte Marlowe Hughes davon geträumt, das Ding umzudrehen?
Während Olivia lächelnd auf uns zukam, fiel mir auf, dass ihr rechter Arm schlaff in einer Schlinge hing, die aus einem schwarzrot geblümten Schal geknotet war. Die Hand hing da wie ein gebrochener Flügel, doch sie schien entschlossen zu sein, tapfer mit dieser Behinderung umzugehen. Die Nägel an der verkümmerten Hand waren perfekt tomatenrot lackiert.
Am Ringfinger ihrer funktionierenden Hand, die sie uns jetzt hinstreckte, trug sie einen blassblauen Diamanten von mindestens zwölf Karat. Er starrte uns unverwandt an wie ein hypnotisiertes Auge.
»Olivia du Pont. Freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten, Mr McGrath.«
»Ganz meinerseits.«
Nachdem wir ihr die Hand geschüttelt hatten, setzten wir uns, inklusive ihrer drei Pekinesen, die aussahen wie fette Mädchen in Fellkostümen. Olivia setzte sich auf das weiße Sofa gegenüber von uns und legte ihren Arm auf den weißen Überwurf, der über die Rückenlehne drapiert war. Die Hunde drängten sich um sie herum, als wollten sie eine Art flauschiges Bollwerk errichten. Dann sahen sie uns erwartungsvoll an, als wären wir gekommen, um sie zu unterhalten.
»Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Der Umzug bringt alles durcheinander.«
»Sie ziehen weg aus der Stadt?«, fragte ich.
»Nur für die Saison. Wir verbringen den Winter in der Schweiz. Die gesamte Familie kommt mit. Meine Enkel lieben das Skifahren und Wandern, aber Mike und ich neigen eher zum Faulenzen. Wir setzen uns vor das Kaminfeuer und rühren vier Monate lang keinen Finger.«
Sie lachte, ein klarer, eleganter Klang, der an das Geräusch eines Löffels erinnerte, der gegen ein Kristallglas geschlagen wird, wenn ein Würdenträger einen Toast ausbringen möchte.
Junge
, war dieser Apfel
weit
vom Stamm gefallen. Es war verblüffend, wie sich eine Frau, wenn sie per Hochzeit auf eine Goldader stieß, nicht nur eine neue Garderobe und neue Freunde zulegte, sondern gleich noch eine neue Stimme, die aus einem 1930 er-Jahre-Grammophon zu kommen schien (brüchig) und ein Vokabular, das regelmäßig Dinge wie
Faulenzen
,
Saison
und
tut mir schrecklich leid
enthielt. Ich musste mich selbst daran erinnern, dass Olivia aus einer Militärfamilie stammte und so arm gewesen war, dass ihre Mutter noch einen dritten Job annehmen musste, als Toilettenfrau in der alles andere als exklusiven Highschool, die Olivia besuchte. Jetzt besaß Olivia wahrscheinlich sechs Ländereien und eine Yacht so groß wie ein Häuserblock.
»Mein Enkel Charlie ist ein großer Fan von Ihnen, Mr McGrath.«
»Bitte nennen Sie mich Scott.«
»Charlie besucht die achte Klasse der Trinity School. Er hat im Sommer Ihr erstes Buch gelesen,
Die MasterCard-Nation
. Er war sehr beeindruckt. Jetzt liest er
Kokain und Karneval
und will investigativer Journalist werden.«
Ich nahm an, dass sie mich bitten wollte, irgendeine fabelhafte Geschichte zu lesen, die er auf seinem Blog veröffentlicht hatte, oder sie wollte, dass ich ihm einen Job gab, und hatte
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