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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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gefühlt habe.«
    »Wirklich?«
    »Als hätte ich gerade eine Prognose bekommen, dass ich nur noch wenige Wochen zu leben habe.«
    Sie kicherte.
    »Das fing schon bei meinem allerersten Mal an, da war ich fünfzehn. Lorna Doonberry. Apropos
Grenzen
, sie spielte Bridge mit meiner Mutter. Ich hab’s übertrieben. Sie ist durch den Duschvorhang gestürzt. Kennst du diese kleinen Seifenhalter in Badewannen?«
    »Klar.«
    »Sie ist mit dem Gesicht darauf gefallen. Hat zwei Zähne verloren. Überall war Blut. Lorna verwandelte sich von einer richtig attraktiven, geschiedenen Mittvierzigerin in die Hauptfigur aus ›Die Nacht der lebenden Toten‹.«
    »Mein erstes Mal war mit Tim Bailey.«
    Ich wartete auf weitere Informationen. Es kamen keine.
    »Erzähl mir nicht, dass er ein Bewohner von Terra Hermosa war.«
    »Ah,
nein
. Er hat für Premier Pool Services gearbeitet. Er hat jeden Freitag den Pool gereinigt.«
    »Wie alt war er?«
    »Neunundzwanzig.«
    »Und wie alt warst
du

    »Sechzehn. Aber schon fast siebzehn. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Ich kam mir
so schlecht
vor. Lügen ist schrecklich. Das ist wie ein Acker, auf dem man aussät, den man bewässert und beackert, aber auf dem nie etwas wachsen wird.« Sie schlang ihre Arme um die Knie und schüttelte sich. »Ich wollte ein paar Mal Schluss machen, aber dann ging Tim mit mir raus hinter die Küche, wenn alle bei Wein und Käse feierten, und tanzte mit mir zur Countrymusik, die aus dem Küchenfenster kam. Er konnte gut tanzen. Aber er war traurig. Er träumte davon, einfach abzuhauen und neu anzufangen, einfach so zu tun, als habe es sein Leben nie gegeben.«
    »Hat er’s getan?«
    »Weiß ich nicht. Darf ich dir was verraten?«
    »Natürlich.«
    »Und du machst auch keine große Sache daraus?«
    »Versprochen.«
    »Als ich in New York am Port Authority ankam, war es drei Uhr nachts. Und Septimus wurde gestohlen.«
    Sie hielt inne und faltete ihre Hände zwischen den Knien.
    »Das war einer, der mit mir im Bus saß. Ich weiß, wer’s war. Er ist in Daytona Beach zugestiegen und saß die ganze Fahrt über hinter mir und Septimus. Er roch nach Alkohol und wollte sich unbedingt unterhalten, aber ich hab einfach meine Kopfhörer aufgesetzt und so getan, als würde ich schlafen. Irgendwas stimmte nicht mit ihm. So psychisch. Aber als wir in Port Authority ankamen und ausstiegen, habe ich nicht aufgepasst. Eine Frau brauchte Hilfe, eines ihrer Kinder in den Kinderwagen zu setzen. Ich hab ihr geholfen und bin dann um den Bus herum, um meine Tasche zu holen. Als ich zurückkam, war Septimus nicht mehr da. Sein Käfig war weg. Ich bin durchgedreht. Ich hab dem Fahrer Bescheid gesagt, und der meinte, ich müsste mich in der Zentrale melden. Ich dachte, ich muss sterben. Ohne Septimus würde ich sterben. Ich konnte nicht
denken
. Inzwischen waren alle anderen Passagiere schon gegangen. Ich bin weg vom Halteplatz und rüber zu den Läden. Es war nichts los. Im nächsten Augenblick war dieser Mann hinter mir. Er flüsterte mir zu, dass er meinen Vogel hatte. Dass er ihn zurückgeben wollte. Ich brauchte ihm bloß auf der Toilette einen zu blasen.«
    Ich starrte sie an. Es hatte mir den Atem verschlagen, so plötzlich kam dieses Bekenntnis. Ich sah mich vor, irgendwas zu tun, nicht einmal mich zu bewegen.
    »Ich sagte, ich glaube ihm nicht, also hat er mich zur Damentoilette hinter der Villa-Pizzeria gebracht. Septimus’ Käfig stand auf dem Boden, aber er war leer. Und dann sah ich, dass der Mann ihn in einer der Kabinen in einen dieser silbernen Behälter gesteckt hatte. Die, in die man Sachen werfen kann. Er flatterte darin herum und wurde ganz wahnsinnig. Er
hasst
die Dunkelheit. Immer schon. Es heißt, man soll eine Decke über den Käfig werfen, um einen Vogel zu beruhigen, aber Septimus mag das nicht. Er muss sehen können. Der Mann sagte, ich müsse nur
das
tun, dann würde er ihn gehen lassen. Ich bin mit ihm in die Kabine. Weiter hinten zog sich gerade eine Frau um, aber sie hat nichts gesagt, als ich nach ihr rief. Er öffnete seine Hose und lehnte sich an die Wand, mit der Faust fest auf dem Deckel dieses silbernen Teils. Also hab ich’s getan. Ich habe noch überlegt, ob ich Septimus befreien und zubeißen sollte, aber dazu hatte ich keine Gelegenheit. Als ich aufhörte, schlug mir der Mann ins Gesicht. Er hat mich ständig Nancy genannt. Nancy. Nancy. Als es vorbei war, hat er gelächelt und Septimus herausgeholt. Er hat ihn richtig fest in der Faust

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