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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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er konnte ein paar Sterbliche quälen.
Gelegentlich
verschwand Stanny während der Dreharbeiten wochenlang und war nicht zu finden. Nirgendwo. Deshalb fragten wir uns oft, ob es einen
anderen Ort
gab, an den er sich zurückzog. Den geheimen Ort im geheimen Ort. Wenn er dann irgendwann wieder auftauchte, hatte er groben Sand in den Schuhen und stank nach Meer. Er war außerdem besonders unersättlich im Bett, wenn ihr versteht – als sei er für eine Weile mit seinem Piratenschiff davongesegelt, habe Dörfer überfallen und niedergebrannt, vergewaltigt, gestohlen und gemordet, und sei dann zurückgekehrt, mit Salzkrusten im Haar und dem Nebel, dem Schweiß und dem Blut, eingezogen in seine Haut.« Sie lächelte verträumt. »In diesen Nächten hat er mich gespalten.«
    »Moment mal«, meldete sich Hopper. Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Diese Eindringlinge aus der Stadt. Sie behaupten, Cordova
wurde
zu einem von ihnen?«
    Die Frage schien sie zu nerven. »Ich
sagte
, dass ich nicht weiß,
auf welche Weise
er beteiligt war,
Tarzan
. Aber irgendwann war er nicht mehr bloß
Zuschauer
. Das war der Grund für den Selbstmord seiner Frau.
Genevra
. Er sagte mir nie, wie es genau passierte. Aber ich nehme an, dass die arme, recht empfindliche Frau von seinen
nächtlichen Aktivitäten
erfuhr. Und dann wohnte auch der Priester noch da, beobachtete sie, sein öliger Schatten war immer um sie herum. Das konnte sie psychisch nicht ertragen. Eines grauen Nachmittags ertränkte sie sich in einem See auf dem Gelände. Die Polizei wertete es als Unfall, aber Stanny kannte die Wahrheit. Genevra war nicht
schwimmen
gegangen. Sie stieg in ein kleines Boot, ruderte zur Mitte des Sees und kletterte über Bord, mit den Taschen voller Steine. Später wurden das Boot und die Steine in ihren Taschen gefunden und zerstört. Natürlich verehrte Stanny sie. Aber nicht genug, um
gewöhnlich
zu sein. Er konnte sich nicht an eine einzige Frau binden. Oder einen einzigen Mann. Ihr werdet feststellen, dass große Künstler nicht so lieben, leben, ficken oder sogar
sterben
wie gewöhnliche Menschen. Denn sie haben immer ihre Kunst. Davon zehren sie mehr als von Beziehungen zu anderen Menschen. Egal welche menschliche Tragödie sich ereignet, sie trifft sie nicht allzu sehr, denn sie müssen bloß das Tragische in ihren Kessel schütten, die anderen schrecklichen Zutaten hineinrühren und das Ganze über dem Feuer kochen lassen. Das Ergebnis wird noch großartiger sein, als wenn das Tragische nie passiert wäre.«
    Marlowe verstummte. Plötzlich ermüdeten sie die Geschichten, die aus ihr herausgesprudelt waren. Eine ganze Weile lang nestelte sie bloß an dem Stoff über ihren knochigen Knien herum.
    »Natürlich kursierten Gerüchte über das, was Cordova in The Peak anstellte. Vor allem unter uns Schauspielern. Eine Geschichte, die ich gehört habe, stammte von Max Hiedelbrau. Max spielte Pfarrer Jinleys Vater in ›Ein Riss im Fenster‹ und dieses Arschloch von einem Patriarchen in ›Atmen mit den Königen‹.«
    Ich konnte mich an Max in beiden Filmen erinnern; er war Australier, ein großer, behäbiger Schauspieler mit dem herabhängenden Gesicht eines Bloodhound.
    »Max ist dafür bekannt, unter Schlaflosigkeit zu leiden. Während der Dreharbeiten zu ›Ein Riss im Fenster‹ war er einmal um vier Uhr nachts draußen im Garten unterwegs und studierte seinen Text ein. Da sah er eine Gestalt die Stufen zum Haupteingang des Hauses hinaufhuschen. Es war Stanny. Er schien aus dem Wald zu kommen und hatte ein schwarzes Paket unter dem Arm. Als Max ihm folgte, fielen ihm am Griff der Haustür rötlichbraune Streifen auf. Es war
Blut
. Eine Spur winziger Tropfen führte durch die Eingangshalle die Treppe hinauf. Max ging ins Bett. Am Morgen waren die Tropfen weg.«
    Marlowe schlürfte den letzten Tropfen Heaven Hill.
    »Die Leute haben geredet«, fuhr sie fort und sah mich an. »Aber die Verantwortlichen von Warner Brothers, die regelmäßig das Set besuchten, sagten
nichts
. Andererseits – und das ist ziemlich vielsagend –, obwohl The Peak eine der luxuriösesten privaten Wohnstätten war, die sie je betreten hatten, mit fester Belegschaft und einem französischen Chefkoch, hat
nicht einer
dieser Anzugträger aus Hollywood je auch nur eine Nacht in dem Haus verbracht. Egal, wie lange der Dreh ging, sie sind immer noch die eine Stunde ins Marriott in Tupper Lake zurückgefahren.«
    »Sie hatten Angst?«, fragte

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