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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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glauben, dass er nur auf diesem Gelände über seine Kraft verfügen konnte. Und es stimmte. Die schauspielerischen Leistungen, die er dort festhielt, waren erstaunlich. Seine Energie war unbegrenzt. Er war Poseidon und seine Schauspieler ein Schwarm kleiner Fische. Wenn man mit Stanny einen Film drehte, wohnte man in The Peak. Man nahm seine Mahlzeiten dort ein und verließ das Grundstück nicht, man durfte keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben. Man gab ihm sein Leben in die Hand, händigte ihm die Schlüssel zum eigenen Königreich aus. Das umfasste den Kopf genauso wie den Körper. Darauf hatte man sich schon vorher eingelassen. Wenn man am ersten Drehtag ankam, war man unwissend und blind. Man wusste nichts über den Film, welche Rolle man spielen würde oder überhaupt
irgendwas
, nur, dass das Leben, wie man es bisher kannte, vorbei war. Man brach auf zu einer Reise durch ein Wurmloch ins Unbekannte. Wenn man nach drei oder vier Monaten schließlich wieder auftauchte und nach Hause kam, war man
verwandelt
. Man merkte, dass man zuvor geschlafen hatte.«
    »Wieso sollte man sich darauf einlassen?«, fragte Hopper, während sie trank. »Sein Leben, mit Kopf und Körper, einem einzigen Mann auszuliefern? Er klingt nach Charles Manson.«
    Seine Vehemenz schien sie zu amüsieren. Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
    »Es gibt das menschliche Verlangen, den freien Willen auszuüben, ja. Aber genauso stark ist das Verlangen danach, gefesselt und geknebelt zu werden. Natürlich war eine Rolle in einem von Cordovas Filmen mit Ruhm verbunden. Man hatte es
geschafft
. Danach bekam man die allerbesten Rollen. Selbst, nachdem er abgetaucht war. Es verlieh einem das gewisse Etwas. Es machte einen zum Krieger. Aber der wahre Lohn der Zusammenarbeit mit Stanny war nicht Geld oder Beifall, sondern das
Danach
. Wir Schauspieler sprachen alle davon. Wenn man nach der Arbeit mit Cordova wieder im echten Leben ankam, war es, als seien alle Farben verstärkt worden. Das Rot war roter. Schwarz schwärzer. Die Gefühle gingen tiefer, als sei das Herz riesengroß geworden, empfindlich und geschwollen. Man träumte. Was waren das für Träume. Mit diesem jähzornigen Mann zu arbeiten war die anstrengendste Zeit meines Lebens. Ich betrat die tiefsten, schmerzhaftesten Bereiche von mir, Bereiche, die ich mich nicht zu öffnen getraut hatte, weil ich bezweifelte, sie je wieder verschließen zu können. Vielleicht habe ich das nie getan. Aber ich würde es sofort wieder tun. Man drehte einen Film. Etwas, das einen überdauert. Etwas Wildes. Kraftvolle Kunst, kein kommerzielles Machwerk, sondern etwas, das in die Menschen hineinschneidet und sie bluten lässt. Während man in The Peak wohnte, war man so sehr im Untergrund wie jeder Widerstandskämpfer, man arbeitete für den letzten wahren Rebellen. Außerdem lernte man, wie weit man gehen würde – in der Liebe und in der Angst, in der Belastbarkeit und beim Sex, in der Euphorie. Man lernte, all das abzuwerfen, was die Gesellschaft einem beigebracht hatte, und sich selbst ein Bild zu machen. Von Grund auf zu leben. Könnt ihr euch vorstellen, wie berauschend das war? Wenn man davon zurückkehrt, wird einem klar, dass die restliche Welt schläft, im Koma liegt, ohne es zu merken.«
    »Haben Sie sich deshalb in ihn verliebt?«, fragte Nora vorsichtig.
    Marlowe, aufgerüttelt von der Frage, setzte sich auf und schob ihr Kinn vor. »Jeder verliebte sich in ihn, Kindchen. Du wärst bloß Wachs in seinen Händen. Das gilt für
jeden Einzelnen
von euch. Wer kann schon einem Mann widerstehen, der jede Zelle deines Körpers versteht und schätzt? Wir heirateten während der Produktion von ›Kind der Liebe‹.« Sie sagte es mit einer traurigen Handbewegung und starrte auf die Heaven Hill-Flasche, die jetzt fast leer war.
    »Nur so viel, als wir fertig waren, sah ich ein, dass unsere Liebe ein Treibhausgewächs war. Innen wuchs und erblühte sie, unter ganz bestimmten Bedingungen aber, außerhalb dieser Enklave, in der echten Welt, war sie
tot
. Ich konnte nicht in The Peak leben, nicht für immer. Denn inzwischen weigerte sich Stanny, sein Anwesen zu verlassen. Es war seine ganz private Dimension, seine persönliche Unterwelt. Er wollte für immer auf diesem magischen Planeten bleiben. Aber
ich
musste zurück zur Erde.«
    »Er hat sich
geweigert
, von dort wegzugehen?«, flüsterte Nora ungläubig.
    Marlowe starrte sie an. »Zeus verließ ungern den Olymp, habe ich recht? Es sei denn,

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