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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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sah uns an und spielte an dem Perlenring herum. Sie drehte ihn sich immer wieder um den Finger.
    »Er hat mir nie erzählt, wie es dazu kam. Aber kurz nachdem der Zaun um das Gelände gebaut worden war, merkte er, dass die Leute aus der Stadt sich noch immer unerlaubt auf dem Grundstück aufhielten.«
    »Wie kamen sie an dem Zaun vorbei?«, fragte ich.
    »Mit dem Boot. Das Anwesen liegt nördlich vom Lows Lake. Wenn man dort vom öffentlichen Strand ablegt, trifft man am nördlichen Ende des Sees auf einen schmalen Fluss, der irgendwann in den See auf dem Gelände von The Peak mündet. Als Stanislas diese Lücke entdeckte, ließ er seine Leute einen Maschendrahtzaun bis unten zum Flussbett einziehen, so dass nur noch ein Fingerhut hindurch passte. Eine Woche darauf wurden er und seine Frau von Trommeln geweckt. Stimmen.
Schreie
. Am nächsten Morgen ging er runter zum Zaun und stellte fest, dass der Teil, der die Durchfahrt über den Fluss verhindern sollte, einfach durchtrennt worden war. Und daran, wie die Kabel durchschnitten waren, erkannte er, dass es jemand von
innen
getan haben musste, nicht von
außen

    »Jemand, der dort lebte«, sagte ich.
    Sie nickte, sagte aber nichts.
    »Aber wer? Ein Angestellter?«
    »Kein Paradies ohne Natter.« Sie lächelte. »Wenn Stanny eine Schwäche hatte, dann war es seine Überzeugung, dass die Persönlichkeit etwas Fließendes ist. Er glaubte nicht, dass Menschen böse waren, zumindest nicht von Grund auf. Er hatte immer gerne viele Leute um sich. Mitläufer,
Groupies
würde man heute sagen, aber er nannte sie
Verbündete
. Er hatte noch keinen Monat in The Peak gewohnt, als er in der Stadt durch Zufall einen gutaussehenden jungen Priester kennenlernte, der ebenfalls gerade nach Crowthorpe gezogen war, um eine Gemeinde aufzubauen. Stanny brauchte einen Religionsberater für ein Drehbuch, an dem er gerade arbeitete, ›Daumenschraube‹, und die beiden freundeten sich an. Es dauerte nur einige Wochen und der Priester zog bei ihnen ein. Genevra war wütend. Sie verabscheute den Mann. Er sah richtig heiß aus, eine Art muskulöser Tyrone Power mit goldenem Haar und blauen Augen.
Wahrscheinlich
hatte er ein Wahnsinnsgerät, wenn ihr versteht. Er behauptete, in den Kornfeldern von Iowa aufgewachsen zu sein. Aber irgendwas an dem Mann war nicht ganz sauber. Genevra versuchte Stanny zu überzeugen, dass er gefährlich war. Ein Hochstapler. Ein Blutsauger. Sie war Italienerin, strenge Katholikin, und ihr waren recht
große Lücken
in seinen Kenntnissen über die Kirche aufgefallen. Sie war außerdem überzeugt, dass er von ihrem Mann besessen war. Stanny sagte, sie solle sich entspannen, der Mann sei faszinierend, inspirierend.«
    Marlowe nahm einen großen Schluck aus der Flasche.
    »Ich weiß nicht, wie es passierte«, sagte sie. »Ich nehme an, dass Stanny eines Nachts runter zur Kreuzung ging, um den Leuten aus der Stadt entgegenzutreten, sich dann aber versteckte und sie beobachtete. Als er im Morgengrauen ins Haus zurückkam, hatte er eine vollkommen andere Sichtweise auf das Ganze. Ich habe keine Ahnung, was er gesehen hatte oder was sie getan hatten. Es wurde nie bewiesen, aber Genevra war sich sicher, dass der Priester dafür verantwortlich war. Dass er eine Art Übereinkunft mit diesen Leuten getroffen hatte, vielleicht sogar selbst einer von ihnen war.«
    Sie seufzte.
    »Und so fing Stannys Leben dort an. In kreativer Hinsicht war er so stark wie nie zuvor. Sicher, seine vorherigen Filme waren elektrisierend gewesen, aber diese
neuen
Werke, die er in The Peak produzierte, hatten eine ganz andere Dimension. Er fing an, seine Nachtfilme zu drehen, die
Night Films
. Er erklärte es mir. ›Huey‹, sagte er. ›Ich liebe es, meine Figuren der Dunkelheit auszusetzen. Nur so kann ich genau sehen, wer sie sind.‹«
    Sie nestelte an ihren langen Satinärmeln herum und strich den Stoff über ihren Knien glatt. Ich sagte nichts, ich war gebannt von dem, was sie uns über Cordova erzählte, und auch von Marlowe selbst. Sie wirkte jetzt so klar und lebendig, dass sie eine komplett andere Person zu sein schien als die, die wir hier angetroffen hatten.
    »Irgendwann brauchte er sein Gelände gar nicht mehr zu verlassen«, erzählte sie weiter. »Alles und jeder kam zu
ihm
. Er hatte dreihundert Acre Platz. Er baute seine Filmsets und schnitt seine Filme dort. Wenn er The Peak verließ, dann nur, weil er in der Nähe von Crowthorpe einen guten Drehort gefunden hatte. Er schien zu

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