Die amerikanische Nacht
Ashley rannte über die gesamte Brücke und hielt erst an, als sie auf der anderen Seite war.
Sie
war der erste Mensch, der sie überquert hatte.«
Marlowe verstummte und beugte sich wankend vor. Eine knochige weiße Hand hatte sich aus dem schwarzen Satinärmel hervorgeschoben und sich um ihre Kehle gelegt.
»Stanislas war entsetzt. Die Versammlung wurde sofort aufgelöst. Die Feuer wurden gelöscht. Wer oder was auch immer diese Leute waren, man befahl ihnen, das Gelände zu verlassen. Stanislas brachte Ashley zurück zum Haus. Zu seiner Erleichterung schien sie gesund zu sein. Sie war ganz sie selbst. Hatte nicht einmal Angst vor dem, was sie gerade gesehen hatte. Die Familie wohnte schließlich in einem echten Filmset. Sie hatte Feuer gesehen, Verfolgungsjagden, explodierende Autos, Männer und Frauen, die sich ihre unsterbliche Liebe gestehen, oder ihren immerwährenden Hass, Kampfszenen, Liebesszenen, Frauen, die an Gebäuden hängen, Männer, die vom Himmel fallen – alles in ihrem Garten. Er brachte sie ins Bett und las ihr etwas vor, ein Kapitel aus ihrem Lieblingsbuch,
Ruf der Wildnis
. Sie schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht ein – genau wie immer. Stanny beschloss, seiner Frau nichts zu erzählen. Keine Ahnung, ob Astrid wusste, was er in der Nacht so trieb, aber sie schienen eine Abmachung getroffen zu haben, dass er machen konnte, was er wollte, solange er die Kinder aus dem Spiel ließ. Als Stanny in dieser Nacht ins Bett ging, betete er zu Gott.
Interessante
Wahl, wenn man bedenkt, was er in seiner Freizeit so machte. Aber er betete tatsächlich zu Gott. Er glaubte damals nicht so ganz an die Dinge, die er da tat. Jetzt hoffte er, dass sie nicht real waren. Es durfte nicht sein. Der Gedanke ist wirklich absurd. Oder?«
Sie fragte dies mit zynischem Vergnügen und nahm noch einen Schluck aus der leeren Heaven Hill-Flasche.
Vielleicht schluckte sie die Dämpfe.
»Im Laufe der nächsten Woche bemerkte Stanislas eine Veränderung. Ashley war immer schon ein aufmerksames, begabtes Kind gewesen, aber jetzt nahmen ihre Begabungen
extreme
Ausmaße an. Er hatte einige chinesische Soldaten und einen ehemaligen Botschafter eingeladen, eine Weile bei ihm zu wohnen, während er an seinem nächsten Film arbeitete. Zwei Wochen nach deren Ankunft sprach Ashley ihre Sprache fließend. Außerdem fing sie an zu starren. Sie starrte in die Menschen hinein, als könnte sie ihre Gedanken lesen, als spulten sich ihre Schicksale vor ihr ab wie eine Rolle Film. Sie lachte natürlich immer noch und war immer noch so schön, aber jetzt war in ihr auch noch eine Ernsthaftigkeit, die vorher nicht da gewesen war. Und dann war da noch das Klavier.«
Marlowe erschauderte bei dem Gedanken daran.
»Astrid war ausgebildete Pianistin. Seit Ashley vier war, ließ Astrid zweimal die Woche eine Klavierlehrerin vom Juilliard Konservatorium anreisen, damit sie Ashley Privatstunden gab. Mit fünf war Ashley gut für ihr Alter, aber sie interessierte sich nicht besonders für das Instrument. Sie war lieber draußen, ritt, fuhr Fahrrad oder kletterte Bäume hoch. Jetzt schloss sie sich stundenlang ein und spielte, bis sie Blasen an den Fingern hatte. Nach wenigen Wochen war das Mädchen in der Lage, jedes Stück, das man ihr vorlegte, Beethoven, Bartók, innerhalb von Stunden zu beherrschen und komplett auswendig zu spielen. Ashleys Veränderung wurde immer offensichtlicher. Stanny war erschüttert, er wollte es nicht wahrhaben. Aber er begann, Nachforschungen anzustellen. Im Laufe der Geschichte haben sich Pakte mit dem Teufel oft in der virtuosen Beherrschung eines Instruments geäußert. Im Italien des 18 . Jahrhunderts war es Paganini. Er gilt noch immer als der beste Violinist, der je gelebt hat. Dasselbe gilt für Robert Johnson, den Bluesmusiker. Er vermachte dem Teufel an einer Kreuzung in Tunica, Mississippi, seine Seele und erlangte dafür die absolute musikalische Meisterschaft.«
Sie hielt inne. Ihr Atem ging jetzt hörbar flach, nervös.
»Astrid wusste noch immer nicht, was passiert war. Sie dachte, Ashley sei ganz einfach wahnsinnig intelligent. Aber dann fiel Astrid auf, dass ihre Tochter sich seltsam kühl anfühlte. Beim Nachmessen stellte sie fest, dass Ashleys Körpertemperatur statt bei den üblichen 36 , 5 Grad nur bei durchgehend 35 , 5 Grad lag. Sie fuhr mit ihr in verschiedene Krankenhäuser in New York City. Die Ärzte konnten nichts feststellen. Astrid machte sich Sorgen, vor allem, als Ashley
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