Die amerikanische Nacht
der Jauche des menschlichen Verlangens und der Sehnsüchte, bis ins hässliche Unbewusste hinein. Niemand wusste, wann – oder ob – er zurückkommen würde. Wenn er an einem Projekt arbeitete, verschwand er darin. Er lebte dafür. Er schrieb dann tagelang rund um die Uhr, bis er so übernächtigt war, dass er zwei Wochen lang schlief wie ein überwinterndes Monster. Es war manchmal unerträglich, mit ihm zusammenzuleben. Ich habe das natürlich am eigenen Leib erfahren, aus nächster Nähe.«
Mit dieser Äußerung war sie sichtbar zufrieden. Sie kippte noch einen Schluck Heaven Hill hinunter, ein einzelner Tropfen lief ihr vom Kinn.
»Das Problem bei Stanny«, sagte sie und wischte sich den Mund ab, »war, wie bei so vielen Genies, sein unstillbares
Verlangen
. Nach dem Leben. Dem Lernen. Dem Schlingen. Dem Ficken. Danach, zu verstehen, warum Menschen taten, was sie taten. Er hat nie geurteilt.
Nichts
war grundsätzlich
falsch
. Alles war menschlich und daher wert, von allen Seiten untersucht zu werden.«
Sie sah uns mit zusammengekniffenen Augen an.
»Ihr seid Fans von ihm, oder?«
Ich antwortete nicht. Ich war zu überwältigt, nicht nur von dem, was sie sagte, sondern von ihrer plötzlichen Energie und Wachheit. Beide schienen mit jedem Schluck Heaven Hill, den sie soff, zuzunehmen – inzwischen hatte sie schon die halbe Flasche geleert.
»Was wisst ihr über seine Kindheit und Jugend?«, fragte sie uns.
»Er ist als Einzelkind bei seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen«, antwortete ich. »In der Bronx.«
»Und er war ein hervorragender Schachspieler«, fügte Nora hinzu. »Er hat früher an den Tischen im Washington Square Park um Geld gespielt.«
»Das war
Kubrick
, verdammt!
Nicht
Cordova. Du musst schon wissen, von welchem Genie du sprichst.« Marlowe sah uns prüfend an. »Das ist alles?«
Weil wir schwiegen, lachte sie spöttisch und zuckte mit den Schultern.
»Das fand ich immer schon so
jämmerlich
an
Fans
. Sie heulen, wenn sie dich mal live zu sehen bekommen, hängen sich eine Gabel an die Wand, die du berührt hast. Aber sie sind überhaupt nicht bereit, diese Inspiration anzunehmen, um ihr eigenes Leben zu bereichern. Stanny-Boy machte das wahnsinnig. Er sagte immer, ›Huey‹ – das war sein Spitzname für mich –, ›Huey, die sehen sich die Filme fünfmal an und schreiben mir Fanbriefe, aber mit der tieferen Bedeutung können sie nichts anfangen. Die nehmen nichts mit. Nicht den Heroismus. Nicht den Mut. Für sie ist das alles nur
Entertainment
.‹«
Huey
seufzte und nahm noch einen Schluck.
»Stanny wurde zum guten Katholiken erzogen. Seine Mutter, Lola, hatte zwei Jobs als Zimmermädchen in einem der großen Hotels in New York. Sie kam aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Neapel. Und sie kannte sich sehr gut mit
Stregheria
aus. Davon habt ihr schon gehört, nehme ich an?«
»Nein«, sagte Nora kopfschüttelnd.
»Das ist ein altes italienisches Wort für
Hexerei
. Eine siebenhundert Jahre alte Tradition, die vor allem in Form von Ammenmärchen weitergegeben wurde, Geschichten, mit denen man Kindern Angst einjagen konnte, damit sie ihr Gemüse aufessen und früh ins Bett gehen. Cordovas Vater kam aus der spanischen Region Katalonien, er war Schmied. Die Familie lebte in einer kleinen Stadt bei Barcelona, bevor sie in die Staaten auswandern wollten. Stanny war damals drei Jahre alt. An dem Tag, an dem sie aufbrechen wollten, entschied der Vater, dass er es nicht konnte. Er wollte sein Heimatland nicht verlassen. Also nahm Lola ihren Sohn und brach nach Amerika auf. Innerhalb eines Jahres hatte der Vater eine neue Familie. Stanny sprach nie wieder mit seinem Vater. Aber er erinnerte sich, wie seine spanische Großmutter ihm von
Bruixeria
erzählte, der katalanischen Tradition der Hexerei. Er sagte, sie habe ihm erzählt, dass Hexen am Neujahrstag die größte Macht besitzen und dass sie dann Kinder entführen. Sie hat ihm beigebracht, dass man die Feuerzange als Kreuz über der Glut im Kamin anbringen und dann Salz darüberstreuen muss, um zu verhindern, dass eine Hexe durch den Schornstein kommt. Ihr seht also, meine Lieben, Stanny wuchs mit Aberglauben auf. Bestimmt nahm er das nicht ernst, aber er war vorhanden, mütterlicher- und väterlicherseits. Und Stannys Phantasie war selbst an schlechten Tagen stärker als unsere Wirklichkeiten. Mit einem solchen Hintergrund war er, denke ich, leider sehr empfänglich dafür …
anfällig
, könnte man sagen.«
Sie
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