Die amerikanische Nacht
Nora.
Sie lächelte schelmisch. »Die hatten keine Eier in der Hose. Solange Stanny ihnen Geld einbrachte und Filme produzierte, die die Leute unbedingt sehen wollten, war ihnen sein Privatleben völlig egal. Trank er Blut? Beschäftigte er sich mit Hexerei? Enthauptete er Tiere? Ärger gehörte zu ihrem Geschäft. Es gab einen Vorfall mit einer Schauspielerin, den sie vertuschen mussten – offenbar war sie über die Arbeit mit Stanny verrückt geworden. Zu Tode erschreckt, kletterte das arme Ding aus ihrem Schlafzimmerfenster im vierten Stock in die finstere Nacht hinaus, krabbelte wie ein Tausendfüßer am Boden herum und wurde nie wieder gesehen.«
»Wie hieß sie?«, fragte Nora.
Marlowe zuckte mit den Schultern. »Ihr Name ist mir entfallen. Egal, was er tat, um diese Kreativität freizusetzen und seine Schauspieler so weit zu bringen, dass sie sich in ihre eigene Seele schnitten und vor der Kamera verbluteten, damit die Welt sich daran laben konnte – solange alle den Mund hielten, ging alles seinen gewohnten Gang. Sie haben weggesehen. Genau wie wir.«
»Nur Ashley nicht.«
Der Satz war aus Hopper herausgeplatzt. Seine Stimme war so ruhig und entschieden, dass sie durch den Raum schnitt, und auch durch Marlowe, sie zum Schweigen brachte, sogar verunsicherte.
»Sie hätte niemals weggesehen«, sagte er.
»Nein«, flüsterte Marlowe.
87
»Es geschah auf einer Teufelsbrücke«, sagte Marlowe. Sie starrte Hopper an und fasste sich nervös an Schultern und Brust, um sicherzugehen, dass ihr Morgenrock sie komplett bedeckte. »Habt ihr
davon
mal gehört?«
»Nein«, sagte Nora.
»Das sind mittelalterliche Brücken. Sagenumwoben. Die meisten findet man in Europa, von England bis Slowenien, errichtet zwischen 1000 und 1600 . Die Geschichten unterscheiden sich von Brücke zu Brücke, aber das Grundprinzip ist immer, dass der Teufel sich bereit erklärt hat, beim Bau der Brücke zu helfen. Im Gegenzug gehört ihm der erste Mensch, der die Brücke überquert. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Aber aus irgendeinem Grund gab es so eine Brücke auf dem Gelände von The Peak.
Sie
haben die gebaut, nehme ich an.«
»Sie meinen die Leute aus Crowthorpe Falls«, sagte ich.
Sie nickte. »Von dem Augenblick an, als sie das Licht der Welt erblickte, war Ashley ein außergewöhnliches Kind. Ein wunderbares Ebenbild ihres Vaters. Unerschrocken, dunkelhaarig, und mit seinen blassen, blaugrauen Augen, die so klar waren wie ein Bach. Die Intelligenz, die unstillbare Neugier, die Art, wie sie das
Leben anpackte
. Die beiden waren unzertrennlich. Stanny liebte seinen Sohn, Theo. Aber Ashley hatte etwas an sich, das … naja, er konnte gar nicht anders, als sie zu verehren.
Alle
taten es.«
Sie setzte die Heaven Hill-Flasche an, während sie den Kopf in den Nacken warf, ohne anscheinend zu merken, dass sie leer war. Sie wischte sich den Mund ab.
»Stanislas hat nie herausgefunden, wieso Ashley ihm in dieser Nacht in den Wald folgte. Ashley hat es nie jemandem erzählt. Aber ich habe so eine Ahnung, wer ihr den Tipp gegeben hat. Wisst ihr, dieser Priester – es
nagte
immer noch an ihm. Er war eine Zeitlang nicht bei Cordova in The Peak gewesen. Nach Genevras Tod war er abgehauen, angeblich reiste er als Missionar durch Afrika. Aber dann war der alte Junge plötzlich wieder im Lande. Er hatte keine Bleibe und nur wenig Geld, und Cordova hatte nichts dagegen, dass sein alter Kumpel wieder in The Peak einzog. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich kann mir vorstellen, dass der Priester eifersüchtig auf Ashley war. Er bewunderte Cordova. Er muss gehofft haben, dass Stanny und er eines Tages … ich weiß nicht, zusammen glücklich sein würden
, bis ans Ende ihrer Tage
? Wie zwei verknallte Teenager?«
Marlowe ließ sich in den Sessel zurückfallen. »Egal, wie es dazu kam, in dieser Juninacht – das war 1992 , Ashley war fünf – war Stanislas draußen bei dieser Teufelsbrücke, die er mit den Leuten aus der Stadt gebaut hatte. Er nahm teil an dem, was sie da taten – irgendein verderbtes Ritual, nehme ich an –, als plötzlich Ashley wie aus dem Nichts dort auftauchte. Sie betrat die Brücke. Ihr könnt euch vorstellen, wie verstörend die Szene für ein Kind sein musste. Ashley hatte keine Angst. Als Stanislas sie sah, schrie er sie an, sie solle stehen bleiben und zurückgehen. Aber in dem Chaos tat Ashley, als sie ihren Vater sah, was jedes Mädchen tun würde, die ihren Vater liebt: Sie lief auf ihn zu.
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