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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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und die dürren Bäume schwangen wie betrunken von mir weg.
    Da merkte ich, dass ich nicht allein war.
    Schweigende Gestalten in schwarzen Umhängen standen im weiten Kreis um mich herum. Sie wurden von der Dunkelheit versteckt, als seien sie aus den Schatten selbst entwachsen. Einer huschte plötzlich in seiner schwarzen Kapuze zwischen den Bäumen her, und daneben noch einer. Und noch einer.
    Sie bewegten sich auf mich zu. Ich rappelte mich hoch.
    »Bleibt, wo ihr seid«, rief ich. »Nicht näher kommen.«
    War ich es, der da schrie?
Die Stimme klang Kilometer entfernt. Ich suchte nach meinem Taschenmesser. Es war weg.
    Es war nicht normal, wie schnell sie sich bewegten, die Gesichter in den schwarzen Kapuzen fehlten, und dann spürte ich, wie mich Hände packten und nach hinten zogen.
    Erst war da der nächtliche Himmel und dann ein Sack über meinem Kopf, der Geruch nach Erde und Schweiß, und dann wurde mir mein Fischgrätmantel – nein, nein, es war mein Rucksack – vom Rücken gezerrt, und man zog an meinen Armen, als wollte man sie ausreißen. Ich hörte die schrecklichen Schreie eines Mannes. Als er nicht aufhörte zu schreien und ich merkte, wie ich in die Luft gehoben wurde, begriff ich zu meinem Entsetzen, dass es meine eigenen Schreie waren.
    *
    Als ich meine Augen öffnete, nahm ich nichts wahr außer einer Motte.
    Sie war klein und blassweiß im trüben Licht. Sie schien verletzt zu sein. Einer ihrer Flügel ließ sich nicht mehr einklappen. Nur wenige Zentimeter von meiner Nase entfernt versuchte sie eine dunkle Wand hochzukrabbeln. Sie lief das Holz hinauf und fiel herunter, versuchte es erneut und fiel wieder. Dann stellte sie kurz ihre Flügel auf und kam direkt auf mich zu. Sie hatte einen pelzigen Kopf und braune Beine, ihre Antennen waren offensichtlich verwirrt. Weil sie merkte, dass ich lebendig und groß war, änderte sie die Richtung und lief zurück zur Wand.
    Es war kalt. Die Luft war unter null. Meine Hände waren taub.
    Wo zur Hölle war ich?
Ich flog. Der Luftzug, den ich im Gesicht spürte, war der Wind, der mich traf, während ich versuchte, den schwarzen Wolken, den atmosphärischen Partikeln, dem Eis und Staub und den scharfkantigen Schneeflocken auszuweichen. Ein schriller Ton klingelte mir in den Ohren, ein schmerzhaftes Geräusch, das mir wie eine lange Nadel ins Gehirn stach.
    Ich versuchte mich aufzusetzen, doch mein Kopf schlug gegen etwas.
    Ich tastete mit der Hand danach. Es war eine glatte Wand aus Holz.
    Ich steckte in etwas drin, in einer Art Kapsel, die auf dem Kopf hing und sich drehte und durch die Geschwindigkeit vibrierte.
Aber das war ja bloß ein Traum.
Ich ließ meine Ängste los. Ich streckte die Beine aus – ich trug immer noch Wanderstiefel – und stieß auf der anderen Seite gegen eine weitere Wand. Dieses Gehäuse, in dem ich war, dieses Raumschiff, war eng, aber dennoch einen guten halben Meter größer als ich.
    Ich öffnete die Augen und blinzelte, doch es gab nichts zu sehen, als würde ich weit über der Erde hängen, zwischen der Atmosphäre und dem Weltall. Das Klingeln in meinen Ohren verstummte.
    Ich musste mir keine Sorgen machen, weil ich irgendwann aufwachen würde.
Dafür waren Träume doch da, dass man voller Erleichterung aufwachte, erschrocken, dass der Verstand sich so einfach täuschen ließ, in verknäulten Bettlaken und mit Sonnenschein, der durch das Fenster fiel. Warum also beeilen? Wenn der Traum aus meinen unterbewussten Ängsten und Sehnsüchten entstanden war, warum sollte ich dann nicht noch ein bisschen länger hier drinbleiben, durch den Raum segeln, den Traum erforschen, ihn durchwühlen, seine Gesetzmäßigkeiten und Parameter kennenlernen und herausfinden, wovor ich solche Angst gehabt hatte.
    Ich streckte meine Arme aus und tastete nach den Seiten.
    Aha. Genau wie unten und oben.
Ein Sarg. Ich liege in meinem Sarg.
    Ich öffnete die Augen. Dies war kein Traum, begriff ich mit plötzlichem Entsetzen.
    Ich konnte nicht aufwachen. Ich
war
bereits wach.
    Die blassweiße Motte hatte es an die Decke geschafft und krabbelte dort im Kreis herum, als ob auch sie verstanden hätte, dass sie gefangen war, dass es absolut kein Entkommen gab.
    Ich begann zu schreien und mit den Fäusten gegen die Wände zu trommeln, ich schlug und trat um mich.
    Es klang, als würde ich in ein leeres Erdloch rufen.
    Oh Gott, nein. Das konnte nicht wahr sein. So etwas konnte es nicht geben.
    Auf einmal verstand ich. Ich sollte wissen, wo ich war.

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