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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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konnte ich nicht aufrecht sitzen, die Decke war nur wenige Zentimeter höher. Ich krabbelte auf dem Bauch am äußeren Rand entlang, und als ich wieder an dem Loch ankam, durch das ich gerade geklettert war, wusste ich, dass es stimmte: Ich befand mich in einer weiteren sechseckigen Kiste.
    Was zur Hölle war das? Eine Hölle aus Särgen, die wie russische Matroschkapuppen angelegt waren, der Kleinste war im Nächstgrößeren und so weiter, bis ins Unendliche? Oder war das ein Psychospiel, das nach einem Gemälde von M. C. Escher entworfen worden war? Eine Szene aus einem Cordova-Film? Ich versuchte, alle Szenen aus allen seinen Filmen durchzugehen, aber ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
    Wenn ich aus dem ersten ausbrechen konnte, konnte ich auch aus dem zweiten ausbrechen.
Ich stemmte mich mit dem Rücken gegen die erste Kiste, drückte die Füße gegen die äußere Wand und trat wie zuvor gegen jedes der Holzbretter, einmal um den gesamten Rand herum.
    Ich wiederholte das Ganze ein weiteres Mal, und noch ein drittes Mal. Nicht eine Wand gab nach.
    Ich untersuchte den ersten Sarg und konnte im schwachen Licht das glatte Holz erkennen, und dass die Seiten schwarz gestrichen waren. Der Anblick löste eine Erinnerung aus, die ganz tief in den gefluteten Kellern meines Kopfes vergraben lag.
    Und dann wusste ich plötzlich, wo ich so etwas schon einmal gesehen hatte.
    Die Erkenntnis war ein solcher Schock, dass ich spürte, wie mir der zarte Realitätssinn, den ich gerade noch hatte, entglitt und ich rücklings durch den kalten schwarzen Raum fiel.
    »Das ist sie«, hatte Beckman gesagt. »Die mysteriöse Schwelle zwischen Wirklichkeit und Illusion. Jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt hat. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das,
nach dem wir trachten
, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnten, würde uns das befreien?
Nein.
Denn das wirklich ausbruchsichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.«
    In diesem Augenblick lag eine solche Kiste auf dem Couchtisch in Beckmans Wohnzimmer, neben Stapeln alter Zeitungen und einem Tablett mit Tee. Es war die berühmte verschlossene Kiste, die dem Mörder in »Warte hier auf mich« gehört hatte, sein kostbarer Besitz, der den Gegenstand enthielt, der ihn als Kind zerstört hatte. Eine Kiste, die noch nie geöffnet worden war. Beckman hatte mich dabei erwischt, wie ich das Schloss zu knacken versuchte. Als ich ihn vor ein paar Wochen besucht hatte, hatte ich mir die Kiste genommen und sie geschüttelt. Ich war amüsiert gewesen, dasselbe mysteriöse Poltern darin zu hören, und mich gefragt, was zur Hölle drin sein könnte.
    Ich selbst war es.
Es waren meine Knochen, die da rasselten.
Ich hatte hineinsehen wollen, und jetzt war ich darin gefangen.
    Die Ironie ließ mich nach Luft schnappen. Ich konnte spüren, wie mir die Tränen kamen und mir das Gesicht hinunterliefen. Es war ein zu grausames Ende, um es begreifen zu können, eine Bestrafung, auf die nur Cordova kommen konnte. Der Mann zeigte mir, dass man manche Rätsel am besten nicht anrührte, dass ihre Wahrheit das Unbekannte war. Zu versuchen, sie aufzubrechen und ihren Inhalt ans Licht zu zerren, bedeutete nur, sich selbst zu zerstören.
    Plötzlich packte mich eine solche Wut, dass ich begann, gegen die Wände um mich herum zu treten, immer wieder, wie ein Reptil, das aus seinem Ei zu schlüpfen versucht. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Decke und hörte sie krachen, dann rammte ich meine Schulter dagegen und spürte, wie das Holz nachgab. Ich kletterte hinauf und stand auf einer Art Fußboden. Ich blinzelte, weil es hier heller war, und sah, dass mich eine dritte schwarze sechseckige Kiste einschloss.
Wie lange würde das so weitergehen? Wie viele Käfige gab es?
Ich trat vor jedes Brett, bis eines nachgab, und noch eines. Ich entkam immer weiter, krabbelte durch Wände, die zerbrachen, auf eine Kiste folgte die nächste, und ich kletterte vorwärts und rückwärts, hoch und runter. Ich war manchmal so orientierungslos, dass ich mich setzen und meine Arme und Beine auf den Boden fallen lassen musste, um zu sehen, in welche Richtung die Schwerkraft wirkte, damit ich sagen konnte, wo oben und wo unten war.
    Ich wusste nicht mehr, durch wie viele Kisten ich gekrabbelt war – es hatte sich nach Dutzenden angefühlt, und mit jeder hatte das

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