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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Drahtseilakt, bei dem ich das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Ich zündete ein weiteres Streichholz an und sah zu meiner Erleichterung nur wenige Meter vor mir – eine Öffnung im Tunnel. In meiner Eile, dorthin zu gelangen, ging das Streichholz aus. Ich lief weiter. Als ich spürte, dass die Wand rechts von mir zu Ende war, zündete ich noch ein Streichholz an.
    Ich stand in einem kleinen runden Alkoven, von dem aus die klaffenden Mäuler weiterer Tunnel scheinbar in alle Richtungen abgingen. Ich ging daran vorbei und las die verblassten Worte, die mit weißer Farbe darüber geschrieben standen.
    Torhaus. Haupthaus. See. Ställe. Werkstatt. Ausschau. Trophy. Pincoya Negra. Friedhof. Mrs Peabody. Labor. Das Z. Kreuzung.
    Pincoya Negra? Labor? Das Z? Ich erinnerte mich, dass die Spinne von geheimen Gängen gesprochen hatte, die von diesem Zentralpunkt aus in andere, versteckte Teile des Anwesens führten. Ich zündete ein Streichholz an und hielt es an das Wort, das direkt vor mir aufs Holz gemalt war.
    Kreuzung.
    So hatte die Spinne die Lichtung genannt, zu der er Ashley gebracht hatte.
    Primitiv festgenagelte Bretter, die diesen Durchgang einmal versperrt hatten, waren mit einer Axt zerschlagen worden.
Das hatte Villarde für die Leute aus der Stadt getan.
Nur Teile von gesplittertem Holz und verdrehte Nägel waren noch zu sehen, einige Nägel lagen auf dem Boden.
    Dieser Gang war noch einfacher als die anderen. Er war nur neunzig Zentimeter breit und sah aus, als führte er direkt durch Granit. Die Wände waren glitschig durch das Wasser, das von irgendwo einsickerte. Ich trat einen Schritt in den Gang hinein und konnte erkennen, dass dort noch mehr Worte in derselben weißen Farbe an die Felsen gemalt waren. Weiter vorne waren Zeichnungen von Strichmännchen mit vorstehenden Nasen und schreienden Mündern zu sehen.
    Ich trat darauf zu, um zu lesen, was dort geschrieben stand.
Wenn du waiter gehs, lass deine Libe
HIER liegen.
WARNUNG : du wirst disen Weg weder als Tier, als Flanze oder als Mineral verlassen. Verabschide dich von deinem Lamm. Gott sei mit
    Das Streichholz erlosch.
    Ich zündete ein weiteres an und zwang mich, einen weiteren Schritt in den Gang hineinzugehen und die Flamme vor mich zu halten. Sie ging sofort wieder aus, ein eiskalter Wind blies mir ins Gesicht, schwoll an und löste sich schnell wieder auf. Dann hörte ich ein Zischen in den Ohren, das so laut und nah war, dass ich nach hinten taumelte und auf dem unebenen Fußboden zurück in den Alkoven stolperte. Dabei ließ ich die Streichholzschachtel fallen.
    Scheiße.
Mein Herz pochte wild, als ich mich hinkniete und auf dem Boden nach der Schachtel tastete.
    Sie war verschwunden.
    Etwas war hier unten, es stand hinter mir und spielte mit mir.
    Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten, drehte mich unsicher um und ging auf allen vieren, um im Dreck nach den Streichhölzern zu suchen.
    Bleib ruhig, McGrath.
Die Schachtel musste hier irgendwo sein.
    Ich schlug mit der linken Hand gegen etwas. Streichhölzer. Ich nahm sie. Doch irgendwie, auch wenn es eigentlich unmöglich war, war die Schachtel weit hinter mir gelandet und lag zwischen zwei Durchgängen an der gegenüberliegenden Wand eingekeilt.
Es war wie beim Schatten des Leviathans. Sie macht, was sie will.
    Ich stand auf und verdrängte diesen Gedanken, zündete ein Streichholz an und trat zurück zum Tunneleingang.
    Kreuzung.
Der Tunnel bog scharf nach links ab und war dann nicht mehr zu sehen.
    Ich wagte mich einen Schritt hinein, jetzt brannte die Flamme ganz ruhig. Einfach so griff ich in meine Tasche und holte den Kompass heraus. Ich war neugierig zu sehen, in welche Richtung ich jetzt ging.
    Ich konnte ihn nur ungläubig anstarren.
    Die rote Nadel spielte verrückt, sie drehte sich wie wild gegen den Uhrzeigersinn.
    Ich schüttelte ihn, doch die Nadel hörte nicht auf, sich zu drehen, immer wieder.
    Das war mehr, als mein Verstand verarbeiten konnte, also steckte ich den Kompass zurück in Brad Jacksons Fischgrätmantel, versuchte zu vergessen, dass ich je einen Blick darauf geworfen hatte, und machte mich auf den Weg durch den Gang.
    *
    Ich wusste nicht, wie lange ich bereits gelaufen war.
    Hier hatte ich das deutliche Gefühl, nicht allein zu sein.
    Der Gedanke ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, dass ich ganz nah an etwas Lebendigem war und jede Sekunde mit dem Kopf voran damit zusammenstoßen konnte. Doch wenn ich die flackernde kleine Flamme vor mich hielt und ein

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