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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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sichergehen, dass Sam mir nicht, auf welchen Wegen auch immer, gefolgt war, weil sie glaubte, ich sei von Trollen entführt worden.
    Als ich die Brücke halb überquert hatte, überkam mich ein Anfall von Höhenangst. Es war, als sei die Brücke unter meinen Füßen unmerklich gewachsen, denn ich konnte von hier aus sehr weit sehen, ich war weit über den Ästen eines gewaltigen Waldes, der sich über Meilen erstreckte und vom Wind geschüttelt wurde wie ein aufgebrachtes Meer. Ein Dach mit schwarzen Spitzen ragte aus den Bäumen hervor,
so weit weg von mir
.
    Mich überkam ein übelkeiterregendes Schwindelgefühl und ich musste mich abwenden und meinen Blick auf das Ende der Brücke fixieren.
    Da war etwas.
    Ich fühlte mich plötzlich ganz taub. Das Ding war nur halb menschlich. Was die andere Hälfte war, wusste ich nicht. Es war groß, zwei oder zweieinhalb Meter, mit hageren Armen und einem runden Gesicht, dessen Haut so grob war, dass sie wie Rinde aussah. Ich konnte seine Augen sehen, rote runde Augen, wie zwei Feuerlöcher in der Erde, sein Mund war voller Dornen.
    Ich musste halluzinieren. Oder ich schlief, lag im Koma. War
tot
.
    Was zur Hölle geschah mit mir? Wie zerbrechlich doch die Realität war.
    Ich wartete darauf, dass meine Augen mir sagten, dass es eine Illusion war, eine optische Täuschung der Birken und Schatten, die in dunklen Haufen über die Brücke schwappten, als seien sie von den Objekten befreit, die sie erzeugt hatten. Ich tastete nach meinem Messer und merkte, dass ich Popcorns Kompass in der Hand hielt.
    Wie hatte er sich wieder in meine Hand geschlichen?
Die rote Nadel hatte aufgehört, sich zu drehen, und zeigte jetzt direkt geradeaus.
    Der Wind setzte zu einer weiteren Heulattacke an. Ich kniff die Augen zusammen und spähte zum Ende der Brücke. Ungläubig sah ich, dass
dieses Ding
keine optische Täuschung war. Es war immer noch da, doch jetzt begann es davonzuschleichen. Seine knochigen Gliedmaßen drehten sich, als seien sie von einem unsichtbaren Strudel erfasst worden. Dann verschwand es zwischen den Bäumen.
    Runter von der Brücke
, schrie eine Stimme in meinem Kopf. Ich rannte hinab, rutschte auf den Blättern weg, mit denen die Steine bedeckt waren, stolperte blindlings von der Brücke und raste einen Waldweg entlang, der mich zu einer kreisrunden Lichtung führte.
    Sie war menschenleer.
    Diese seltsame Vision, was auch immer es war, musste sich hier irgendwo versteckt halten.
Hierher kamen sie, um ihre Rituale durchzuführen, hier wurde Cordova einer von ihnen.
Ich trat vor und merkte, dass ich auf der Brücke meinen Gleichgewichtssinn verloren hatte. Ich fiel um und starrte in den nächtlichen Himmel hinauf. Der Himmel war so glatt, dass es aussah, als sei eine schwarze Flüssigkeit zwischen die Bäume gegossen worden.
Was geschah mit mir?
Meine Gliedmaßen schmolzen.
    Ich versuchte, mich aufrecht hinzusetzen. Ich saß nicht in gewöhnlichem Dreck, sondern in feinem schwarzen Pulver, das vor Mineralien glitzerte. Einen Meter von mir entfernt lag ein verkohltes Stück Holz. Ich griff danach und stellte erstaunt fest, dass es zwar wie der Überrest eines gewöhnlichen Feuers aussah, aber schwer wie Eisen war. Ich konnte es nicht anheben.
    Darunter klemmte ein abgerissenes Stück weißer Stoff.
Es sah aus wie der Fetzen einer Kinderbluse.
    Ich zog es hervor, doch ein heftiger Windstoß riss es mir aus der Hand und blies es wie ein einzelnes weißes Blatt quer über die Lichtung. Es verschwand zwischen den Bäumen. Ich stolperte hinterher. Als ich sah, wohin es entkommen war, was es angesaugt hatte, erstarrte ich vor Entsetzen.
    Es war eine Grube, die mit Kindersachen gefüllt war.
    Ich konnte jedes einzelne Teil erkennen, das darin lag, gut viereinhalb Meter unter mir: winzige Pantoffeln und T-Shirts, Babypuppen und Spielzeugeisenbahnen, Unterhemden und Turnschuhe, alles verrottet und durchnässt, manches schwarz, als sei es verbrannt. Hier hatte Cordova alles hineingeworfen, die gestohlenen Gegenstände, seine Versuche eines Tausches. Ich konnte es lebhaft vor mir sehen, mit einer Deutlichkeit, die mir die Augen versengte – seinen Wahn, seine Verzweiflung, seine Bereitschaft, jede letzte Ecke seiner Seele der Dunkelheit preiszugeben, damit seine Tochter weiterleben konnte.
    Ich stellte erst jetzt erschrocken fest, dass ich mit dem Gesicht im Dreck lag.
    Wie lange hatte ich hier gelegen? Stunden? Tage?
    Ich hob meinen Kopf, der schmerzhaft hämmerte. Der dunkle Boden

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