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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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ich.
    »Sie haben das noch nie gesehen?«, fragte er ungläubig.
    »
Nein.
Wem gehört das?«
    »Keine Ahnung.« Er drehte sich um, zog die blaue Decke weg und setzte sich aufs Sofa.
    »Wer hat das geschickt?«
    »Sie.«
    »Ashley.«
    Er nickte. Dann beugte er sich vor, nahm sich die Packung mit den Blättchen vom Tisch und zog eines heraus.
    »Wieso?«, fragte ich.
    »Irgend so’n kranker Scherz.«
    »Dann warst du
doch
mit ihr befreundet.«
    »Nicht wirklich«, sagte er. Er langte über den Tisch nach seinem grauen Mantel und tastete in den Taschen nach dem Päckchen Marlboro. »Nicht befreundet. Wir waren eher
Bekannte
. Selbst das ist zu viel gesagt.«
    »Wo hast du sie kennengelernt?«
    Er setzte sich wieder und klopfte eine Zigarette aus der Packung. »Im Camp.«
    »Im Camp?«
    »Genau.«
    »Welches
Camp

    »Das Six Silver Lakes Wilderness Therapy-Camp in Utah.« Er sah mich an und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Dann begann er, eine Zigarette auseinanderzunehmen und den Filter vom Papier zu lösen. »Von dieser erstklassigen Einrichtung haben Sie bestimmt schon gehört.«
    »Nein.«
    »Dann haben Sie was verpasst. Wenn Sie Kinder haben, kann ich das nur empfehlen. Besonders, wenn Sie wollen, dass Ihr Kind zum erstklassigen Irren heranwächst.«
    Ich gab mir keine Mühe, meine Überraschung zu verbergen. »Da hast du Ashley kennengelernt?«
    Er nickte.
    »Wann?«
    »Ich war siebzehn. Sie war vielleicht
sechzehn
. Sommer 2003 .«
    Also war Hopper fünfundzwanzig. Er wirkte älter.
    »Das ist so eine Jugendtherapie-Abzocke«, fuhr er fort, während er ein wenig
Golden-Virginia
-Tabak auf das Blättchen streute. »Sie werben damit, dass es deinem gestörten Kind hilft, sich die Sterne anzugucken und ›Kumbaya‹ zu singen. In Wirklichkeit überlässt man da ein paar bärtigen Spinnern die Verantwortung für einige der durchgeknalltesten Kids, die ich je gesehen habe – Bulimiker, Nymphomanen, Ritzer, die versuchen, sich mit den Plastiklöffeln vom Mittagessen die Handgelenke aufzusägen. Sie glauben nicht, was da für eine Scheiße abgeht.« Er schüttelte den Kopf. »Die meisten der Jugendlichen hatten die Eltern psychisch so verkorkst, dass sie mehr brauchten als zwölf Wochen in der Wildnis. Die brauchten eine Wiedergeburt.
Sterben
, und dann als Grashüpfer wiederkommen oder als
beschissenes Unkraut
. Das wäre immer noch besser als die Quälerei, die das Leben für sie bedeutet.«
    Ich schloss aus dem zornigen Trotz, in dem er dies sagte, dass er nicht über die anderen Camp-Teilnehmer sprach, sondern über sich selbst. Ich ging um das weiße Sweatshirt herum zu einem der Liegestühle – dem, an dessen Lehne die Strumpfhose hochkletterte – und setzte mich.
    »Keine Ahnung, wo sie die Betreuer aufgetrieben hatten«, sagte Hopper, legte den Filter ins Papier und beugte sich vor, um es anzulecken. »Riker’s Island, wahrscheinlich. Da war ein fetter asiatischer Junge, Orlando. Den haben sie
gefoltert
. Er war so ein wiedergeborener Baptist, deshalb redete er ständig von Jesus. Sie haben ihm nichts zu essen gegeben. Der Typ hatte noch nie zehn Minuten ohne Snickers verbracht. Er kam nicht mit, hatte einen Hitzschlag. Und die haben ihm
immer noch
gesagt, er solle seine innere Kraft finden und Gott um Hilfe bitten. Gott hatte keine Zeit. Er hatte nichts für ihn. Das Ganze war wie
Herr der Fliegen
auf Drogen. Ich hab immer noch Albträume davon.«
    »Warum warst du da?«, fragte ich.
    Amüsiert lehnte er sich auf dem Sofa zurück. Er steckte sich die selbstgedrehte Zigarette in den Mundwinkel und zündete sie an. Er inhalierte, zuckte und blies eine Rauchwolke in den Raum.
    »Mein Onkel«, sagte er und streckte die Beine aus. »Ich bin mit meiner Mama durch Südamerika gereist, sie stand damals auf so einen missionarischen Schwachsinns-Kult. Ich bin abgehauen. Mein Onkel lebt in New Mexico. Er hat irgend so einen Schläger angeheuert, um mich zu finden. Ich habe bei einem Freund in Atlanta übernachtet. Eines Morgens esse ich Cheerios, da fährt so ein brauner
Van
vor. Wenn der Sensenmann ein Auto hat, dann
dieses Teil
. Keine Fenster, bis auf zwei in der Heckklappe. Da drin hatte man ganz sicher irgendein unschuldiges Kind entführt und, was weiß ich,
enthauptet
. Bevor ich mich versah, saß ich mit einem Pfleger hinten im Wagen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn
der
Typ ein zugelassener Pfleger war, bin ich ein beschissener Kongressabgeordneter.«
    Er hielt inne, um an der Zigarette zu

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