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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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ziehen.
    »Sie haben mich ins Ausgangslager nach Springdale gebracht. Zion National Park. Da trainiert man zwei Wochen lang mit den anderen abgefuckten Camp-Teilnehmern. Man bastelt indianische Traumfänger und lernt, wie man mit der eigenen Spucke das Klo putzt – was man fürs Leben ja
unbedingt
braucht. Dann bricht die Gruppe zu einem zehnwöchigen Marsch durch die Wildnis auf. Man lagert an sechs verschiedenen Seen. Nach jedem See soll man ein Stück näher bei Gott sein und sein Selbstwertgefühl gesteigert haben. Aber in Wirklichkeit steht man immer kürzer davor, zum Psychopathen zu werden, wegen der ganzen Psychoscheiße, der man da ausgesetzt ist.«
    »Und Ashley war eine der Camp-Teilnehmerinnen«, sagte ich.
    Er nickte.
    »Warum war sie da?«
    »
Keine
Ahnung. Das haben sich alle gefragt. Sie tauchte erst an dem Tag auf, an dem wir zu der zehnwöchigen Wanderung aufbrechen wollten. Am Abend davor verkündeten die Betreuer, dass kurzfristig noch jemand dazustoßen würde. Alle waren angepisst, weil das hieß, dass dem Neuen die Grundausbildung erspart blieb. Dagegen wirkte ›Full Metal Jacket‹ wie die Sesamstraße.« Er schüttelte den Kopf. Dann sah er mich an und lächelte zaghaft. »Aber als wir sie sahen, war alles gut.«
    »Wieso?«
    Er starrte den Tisch an. »Sie sah
geil
aus.«
    Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber stattdessen lehnte er sich vor und klopfte die Zigarettenasche ab.
    »Wer hat sie hingebracht?«, fragte ich.
    Er sah zu mir auf. »Weiß ich nicht. Am nächsten Morgen, beim Frühstück, war sie einfach da. Sie saß allein an einem der Picknicktische in der Ecke und aß Cornbread. Sie hatte fertig gepackt und war bereit zum Aufbrechen, mit einem roten Tuch um den Kopf. Wir anderen waren total unorganisiert. Wir rannten rum wie aufgescheuchte Hühner, um fertig zu werden. Irgendwann ging’s dann los.«
    »Und du hast dich ihr vorgestellt«, vermutete ich.
    Er schüttelte den Kopf und klopfte die Zigarette am Teller ab. »Nee. Sie blieb für sich. Natürlich wussten alle, wer ihr Vater war und dass sie das kleine Mädchen aus ›Atmen mit den Königen‹ war. Deshalb belagerten sie alle. Aber sie war eiskalt, hat nichts gesagt außer ja oder nein.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie war nicht eingeschnappt oder so. Sie hatte bloß kein Interesse, neue Freunde zu finden. Ziemlich bald gab es Unmut, vor allem bei den Mädchen, wegen all der Sonderregeln, die die Betreuer ihr einräumten. Jeden Abend mussten wir am Lagerfeuer über die Scheiße reden, wegen der wir dort waren. Einbruch. Selbstmordversuche. Drogen. Die Vorstrafenregister waren zum Teil länger als
Krieg und Frieden
. Ash musste
nie
ein Wort sagen. Sie wurde einfach übergangen, ohne Erklärung. Der einzige Hinweis war, dass sie einen Verband um die Hand hatte, als sie ankam. Zwei Wochen nachdem wir losgewandert waren, hat sie ihn abgenommen. Darunter war eine schlimme Brandwunde. Sie hat nie gesagt, woher die stammte.«
    Das überraschte mich. Genau
diese
Brandwunde wurde in der Vermisstenanzeige als ihr einziges Erkennungsmerkmal genannt, außer der Tätowierung am Fußgelenk.
    »Nach zwei Tagen Wanderung haben wir gewettet«, fuhr Hopper fort. »Der Erste, der es schafft, sich länger als fünfzehn Minuten mit Ashley zu unterhalten, würde die beiden Ecstasy Pillen bekommen, die einer der Jungs aus L. A., Joshua, in den hohlen Enden der Schnürsenkel seiner Wanderschuhe reingeschmuggelt hatte.« Er legte den Kopf in den Nacken und pustete Rauch zur Decke. »Ich beschloss, mich zurückzuhalten und mir die Selbstmordkommandos der anderen anzusehen. Und so war’s auch. Ashley hat sie alle abblitzen lassen. Einen nach dem anderen.«
    »Bis auf dich«, sagte ich.
    Man konnte es sich sehr gut vorstellen: Zwei wunderschöne Teenager finden in der Wildnis der Jugend zueinander, zwei Orchideen, die in der Wüste erblühten.
    »Im Gegenteil«, sagte er. »
Mich
hat sie genauso abblitzen lassen.«
    Ich starrte ihn überrascht an. »Nicht dein Ernst.«
    Er nickte. »Ungefähr eine Woche, nachdem die anderen sich die Finger verbrannt hatten, versuchte ich mein Glück. Ashley ging wie immer hinten, ich also auch. Ich fragte sie, wo sie herkam. Sie sagte, New York. Danach kamen nur noch Ein-Wort-Antworten oder ein Nicken. Ich hatte es versaut.«
    Er drückte seine Zigarette auf dem Couchtisch aus, warf sie zu den anderen Stummeln und lehnte sich zurück.
    »Ashley hat
zehn Wochen
lang zu niemandem irgendwas gesagt?«, fragte

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